1984 – Auf der Schwelle zur Diktatur

Sönke Paulsen, Berlin

Das Gesicht mit dem schwarzen Schnurrbart blickte von jeder ins Auge fallenden Häuserecke herab. Eines hing an der Hauswand genau gegenüber.

Wem es zu abgedroschen vorkommt, wieder einen Artikel zu sehen, der sich mit der allgegenwärtigen Überwachung beschäftigt und dabei Orwell zitiert, muss es ja nicht lesen! Ich schreibe diesen Artikel dennoch, weil die Schwelle zur Diktatur, auf der wir uns befinden, nicht mehr zu übersehen ist und die Gefahr einem „unsterblichen Diktator“ zu unterliegen, von Tag zu Tag wächst.

Der grosse Bruder sieht Dich, lautete der Schriftzug darunter, während sich der dunkle Blick tief in Winstons Augen senkte….

„Die Stimme kam aus einer rechteckigen Metallplatte,

die wie ein blinder Spiegel aussah und rechter Hand in die

Wand eingelassen war. Winston drehte an einem Regler,

woraufhin die Stimme ein wenig leiser wurde, doch der

Wortlaut war immer noch vernehmbar. Man konnte das

Gerät (das Telemonitor genannt wurde) zwar leiser stellen,

ganz abschalten ließ es sich jedoch nicht…

Der Telemonitor empfing und übertrug Daten zur selben Zeit. Jedes Geräusch,

das Winston machte und das über ein leises Wispern hin-

ausging, wurde von dem Gerät registriert; darüber hinaus

war er zu sehen und zu hören, solange er im Blickfeld der

Metallplatte blieb. Man konnte natürlich nicht wissen, ob

man gerade beobachtet wurde. Wie oft oder nach welchem

System sich die Gedankenpolizei in einzelne Leitungen

einschaltete, blieb bloße Spekulation. Es war sogar denkbar,

dass jeder rund um die Uhr überwacht wurde. Wie dem

auch sei, die Gedankenpolizei war imstande, sich überall

einzuschalten, wann immer sie wollte. Man musste stän-

dig in der Annahme leben – man tat es aus Gewohnheit,

die zum Instinkt wurde –, dass jedes Geräusch, das man

machte, mitgehört und jede Bewegung argwöhnisch ver-

folgt wurde, außer in der Dunkelheit.

Eine solche Lebensrealität gibt es bereits, wenn auch noch nicht bei uns. In Westchina arbeitet die chinesische KP an der kompletten Überwachung der Uiguren, die eben nicht nur, dank der Unterstützung auch deutscher Firmen, wie Siemens, durch Kameras in der Öffentlichkeit stattfindet, sondern auch durch die Smartphones der Bewohner, die regelmäßig kontrolliert werden können. Wer die eingebaute Spionagesoftware entfernt, macht sich strafbar und kommt (wieder) ins Umerziehungslager. Einrichtungen, die an KZs erinnern und in denen sich derzeit über eine Million Uiguren befinden, ebenfalls überwacht durch deutsche Hardware und dazugehörige Software, die übrigens ebenfalls in Zusammenarbeit mit dem Siemenskonzern entwickelt wurde. Mit totalitären Diktaturen lassen sich eben noch gute Geschäfte machen. Siemens streitet ab, aber die Beweislage ist bereits jetzt beklemmend.

Gedankenpolizei ubiquitär

Die Überwachung durch die „Gedankenpolizei“ ist dabei keine rein chinesische Angelegenheit. Orwell beschreibt in seinem Roman auch das Denunziantentum und öffentliche Rituale, in denen gemeinsamer Hass gegen die Andersdenkenden praktiziert wird. Gemeint ist im Buch der „Zwei-Minuten-Hass“, der ebenfalls über den Telemonitor stattfindet und dem sich der Romanheld kaum entziehen kann. Ein Schelm, der dabei an Twitter denkt. Der Telemonitor sagt den Leuten nicht nur, was sie denken sollen, sondern er verankert die Botschaften des Großen Bruders tief und emotional in ihnen. Der „Zwei-Minuten-Hass“ wird regelmäßig bis zur Erschöpfung praktiziert, er entleert die Menschen, die immer gleichgültiger und unselbständiger werden. Auch „Winston“ die Hauptfigur hat diesen Entleerungsprozess schon hinter sich. Sein biografisches Gedächtnis gibt kaum noch etwas Eigenes her.

Er durchsuchte sein Gedächtnis nach irgendwelchen Kindheitserinnerungen, die ihm hätten verraten können, ob London immer schon so ausgesehen hatte. Hatte es immer schon diese Reihen aus halb verfallenen Häusern aus dem 19. Jahrhundert gegeben, deren

Außenwände mit Holzbalken gestützt wurden, deren

Fenster mit Hartkarton abgedeckt und deren Dächer mit

Wellblech ausgebessert waren, deren schief verlaufende

Gartenmauern nach allen Seiten hin absackten? Und die

zerbombten Bereiche, in denen Mörtelstaub durch die Luft

wirbelte und Nachtkerzen auf Schutthaufen wucherten;

und die Stellen, an denen die Bomben ein größeres Areal

dem Erdboden gleichgemacht hatten, an denen jetzt schä-

bige Siedlungen aus hölzernen Verschlägen aus dem Boden

geschossen waren, die wie Hühnerställe aussahen? Aber es

half nichts, er konnte sich einfach nicht erinnern:

Von seiner Kindheit war ihm nichts geblieben außer einer Anzahl

gleißender Bilder, die zusammenhanglos auftauchten und

zumeist unverständlich waren. …

Dieser langsame Persönlichkeitsverlust scheint kaum aufzuhalten zu sein. Die Omnipräsenz der Überwachung, zwingt dem Protagonisten sogar eine entsprechend neutrale Mimik auf. Die Gedanken werden üblicherweise in eine „Sprechmaschine“ diktiert und sind damit der Überwachung zugänglich.

Winston drehte sich ruckartig um. Er hatte seiner Miene

den Ausdruck eines ruhigen Optimismus verliehen, den

man klugerweise präsentierte, wenn man sich dem Tele-

monitor zuwandte. …

Es ist ein leeres Buch mit unbeschriebenen Seiten, das ihm die Idee vermittelt, etwas Eigenes aufzuschreiben, eigene Gedanken, die von außen nicht kontrolliert und beeinflusst werden können.

Eigentlich war er es nicht gewöhnt, mit der Hand zu schreiben. Abgesehen von kurzen Notizen diktierte man für gewöhnlich alles in den

Sprechschreiber, der sich natürlich für sein gegenwärtiges

Vorhaben nicht eignete. Er tauchte den Federhalter in das

Tintenfässchen und hielt einen Moment inne. …

Bei der Beschreibung des politisch korrekten Denkens in dieser grenzenlosen Diktatur benutzt Orwell den Begriff der „politischen Rechtgläubigkeit“. Von Denken ist gar nicht mehr die Rede. Alles was der Protagonist im Buch möchte, ist eigene Gedanken zu verfolgen. Man bekommt den Eindruck eines instinktiven Selbsterhaltungstriebes, als „Winston“ heimlich das Tagebuch schreibt.

Wenn er zu den Proles (Proleten) gehören würde, wäre es kein Problem, sie werden nicht so eng kontrolliert, was sie sagen, ist unwichtig. Aber „Winston“ arbeitet im Ministerium und steht damit unter Beobachtung.

Julian Assange hat in einem Gespräch mit dem damaligen Google CEO Eric Schmidt das Bild einer Pyramide gebraucht. Wer unten in der Pyramide sitzt, wird nicht als Gefahr wahrgenommen und kann alles äußern (was die Mehrheit ist) je weiter man noch oben kommt, desto gefährlicher wird die freie Meinungsäußerung für den Einzelnen. Am Ende kann einem sogar das Leben genommen werden (wie in Orwells Roman). Der Anschein der Meinungsfreiheit besteht aber noch, weil eben die Mehrheit der Bevölkerung noch redet, wie ihr der Schnabel gewachsen ist.

Dann gibt es eben noch die Mitläufer und Denunzianten, zu denen Orwells Protagonist vor allem die Frauen zählt. Ein Schlag gegen den Feminismus, der vor allem gern denunziert (#Metoo).

Vor allem Frauen, insbesondere die jungen, gehör-

ten zu den bigottesten Anhängern der Partei; sie hatten die

Parolen verinnerlicht, betätigten sich als Amateurspitzel

und schnüffelten herum, ob jemand von der Parteilinie ab-

wich. (…)

Bei der einen Person handelte es sich um

eine junge Frau, der er oft auf den langen Fluren begegnete.

Er wusste nicht, wie sie hieß, dafür wusste er aber, dass sie

in der Abteilung für Fiktion arbeitete. Vermutlich hatte sie

einen Job als Mechanikerin an einer der Romanmaschinen,

denn manchmal hatte er sie mit ölverschmierten Händen

und einem Schraubenschlüssel gesehen. …

Ganz offensichtlich gibt es bei Orwell schon die künstliche Intelligenz, mit deren Hilfe Romane verfasst werden, durch deren gelenkten Fiktionen, von einer trostlosen Realität abgelenkt werden soll. Man erkennt Parallelen zu unserer fiktionalen Welt. Die künstliche Intelligenz ermöglich auch, die Massenüberwachung und die ständige Manipulation der Menschen.

Die junge Frau machte einen forschen Eindruck, war ungefähr siebenund-

zwanzig, hatte volles dunkles Haar, ein sommersprossiges

Gesicht, und all ihre Bewegungen wirkten flink und athle-

tisch. Eine schmale scharlachrote Schärpe, das Abzeichen

des Junioren-Anti-Sex-Bunds, schlang sich auf Taillenhöhe

mehrmals um ihren Overall, gerade fest genug, um ihre wohlgeformten Hüften zur Geltung zu bringen.

Sexuelles Verlangen als Keimzelle der Rebellion, die bekämpft werden muss? Im Roman ist es so. Das hat tatsächlich weniger mit autoritären Diktaturen, als mit unserem modernen Pietismus zu tun. In der DDR beispielsweise war sexuelle Freiheit geradezu das Surrogat für die wirkliche Freiheit und wurde ausgiebig toleriert, aber auch durch die Stasi als Druckmittel benutzt. In China ist die sexuelle Freiheit der Uiguren, wie neuere Berichte zeigen, massiv eingeschränkt. Insbesondere dann, wenn es um die Familiengründung geht. Man will in China möglichst wenige muslimische Familien.

Im Fazit schildert der Roman, wie die staatliche Repression auf dem Wohnzimmer-Sessel platzgenommen hat und bis in das Intimleben der Betroffenen vorgerückt ist. Die Bürger werden geduzt, Abstand zum Staat wird nicht geduldet.

Das gleiche gilt bei uns zunehmend für das Internet als Herrschaftsinstrument. Es nähert sich inzwischen mit einem respektlosen „Du“ bis in unsere Schlafzimmer und späht unsere Gewohnheiten aus, seien sie politisch oder vollkommen unpolitisch. Es schafft gerade die Grundlage für eine totale Kontrolle über die Menschen. Noch ein Schritt Richtung totalitärer Kontrolle durch eine „nicht mehr gewählte Regierung“ und wir finden uns mitten in einer Diktatur wieder. Die Eckpfeiler für eine totale Überwachung und Manipulation stehen längst. Das Internet ist jetzt schon zu einem unsterblichen „digitalen Diktator“ geworden.

spaulsen

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