Sönke Paulsen, Berlin
Die Wüste Gobi ist ein Trockengebiet von der Größe Algeriens, was mit 2,3 Millionen Quadratkilometern, das größte afrikanische Land ist. Sie verteilt sich zwischen China und der Mongolei, wobei in Letzterer Steppen dominieren und in Ersterem die eigentlichen Wüsten liegen.
Im Westen grenzt das Gebiet an die Taklamakan-Wüste an, die in Xinjiang liegt, dem Gebiet der Uiguren, die von der chinesischen Regierung kulturell, religiös und politisch verfolgt werden. Dort befinden sich zahlreiche Konzentrationslager mit insgesamt über einer Million Häftlingen.
Die chinesisch mongolische Grenze liegt im mittleren Teil der Gobi und hat eine Gesamtlänge von fast fünftausend Kilometern, wovon der größte Teil in der Wüstenregion liegt.
Im Nordosten schließt sich die Innere Mongolei an, die zu China gehört und ebenfalls ein Ort der Verfolgung ist. Auch hier gibt es zahlreiche Umerziehungslager für Mongolen, die mit den dominierenden Han-Chinesen gleichgeschaltet werden sollen.
In der Wüste selbst, die aus Teilwüsten besteht, welche felsiger Natur sein können oder ausgedehnte Sandwüsten sind, wie die Baidan-Jaran-Wüste auf dem Gebiet der Inneren Mongolei Chinas, zeigt sich das dunkle Wesen Chinas.
Hier bereitet sich das „Reich der Mitte“, militärisch auf die Konfrontation mit den anderen Supermächten, Russland und den Vereinigten Staaten von Amerika vor. Hier befinden sich Weltraumbahnhöfe, Raketensilos für Interkontinentalraketen und ausgedehnte Testgelände für Waffen aller Art. Hier befindet sich auch ein wichtiger Stützpunkt der Strategischen Kampfunterstützungstruppe der Volksrepublik China deren Aufgaben offiziell so formuliert werden:
Überwachung und Ausforschung gegnerischer Ziele; Abschöpfung von Informationen im Besitz besagter Ziele.
Betrieb der Navigationssysteme in Frieden und Krieg, einschließlich des Beidou-Satellitennavigationssystems und der chinesischen Aufklärungssatelliten; Schutz besagter Systeme vor Störung durch den Gegner.
Abwehr von Angriffen auf die chinesische Luftraumüberwachung, das Küstenradar, den Funkverkehr, das zivile Internet sowie das regierungseigene und das VBA (Volksbefreiungsarmee)-eigene Intranet.
Der geheimdienstliche Teil wird von der „vierten Brigade“ übernommen, welche ihr Hauptquartier allerdings nördlich von Peking am Fuß des Yan Gebirges hat. Sie wird auch als „Einheit 61786“ bezeichnet.
Die Kampfunterstützungstruppe ist auch für die Infrastruktur der chinesischen Raumfahrt zuständig und kontrolliert einen der wichtigsten Landeplätze der bemannten Raumfahrt in China, den „Ostwind-Landeplatz“ in der Baidan-Jaran-Wüste. Obwohl es sich nur um einen Ausweich-Landeplatz handelt, findet ein reger militärischer Betrieb statt und bemannte Landekapseln gehen häufig hier und nicht am Weltraumbahnhof Jinquan mit seinen Landeplätzen in der nördlicheren Gobi nieder.
Das Gebiet ist hügelig und schwer einsehbar, Landungen sind riskant, finden auch meist ohne jede Öffentlichkeit statt, was den Ostwind-Landeplatz für militärisch geheime und brisante Raumfahrtexperimente prädestiniert.
Im Jahre 2007 gelang es der chinesischen Armee mit einer Vorgängerrakete der vierstufigen Dongfeng-Interkontinentalrakete, einen eigenen Satelliten in der Erdumlaufbahn zu zerstören. Dieser Vorgang, der erst zwei Wochen später bekannt wurde, führte zu Protesten vor allem der USA und Großbritanniens. Man fürchtete, dass China daran arbeite, auch Satelliten anderer Länder aus der Umlaufbahn zu schießen und damit die Infrastruktur von Raketensystemen seiner Gegner, zu zerstören.
Im gleichen Jahr brachten die Amerikaner einen Abwehrsatelliten in die Umlaufbahn, der in der Lage war, startende Atomraketen, mittels Infrarottechnologie, schnell zu identifizieren. Außerdem gelang es ihnen eine Langstreckenrakete, die in Alaska gestartet wurde, bereits kurz nach dem Start, von einem entfernt liegenden Stützpunkt aus, zu zerstören.
China, das über nicht mehr als drei bis vierhundert Atomraketen verfügte, sah die eigene Abschreckungsstrategie gegenüber den USA gefährdet und hatte vor allem kein Interesse, dass das nordkoreanische Drohpotential gegen Taiwan, Japan und die amerikanische Pazifikküste, entwertet wurde.
Aus Sicht Pekings waren die Amerikaner dabei, ein global wirksames Raketenabwehrschild im Weltraum zu entwickeln, welches das Abschreckungspotential ihrer Gegner früher oder später neutralisieren würde. Dies war der Grund, warum die KP-Chinas einen Marschbefehl für die Zukunft herausgab, der in dem chinesischen Programm für Weltraumwaffen gipfelte. Dieser sollte das Land bei weltraumgestützten Waffensystemen technologisch noch vor die USA bringen.
Im Jahr 2025 erklärte der chinesische Präsident Xi Jinping dieses Ziel als im Wesentlichen erreicht. China sei nun in der Lage, militärische Satelliten seiner Gegner zu erkennen und unschädlich zu machen. Man werde in Kürze mit dem Aufräumen im Weltall beginnen. Wenige Tage später hob von der Wüste Gobi aus, der erste chinesische Killersatellit mit einer Trägerrakete zu seiner Reise in die Umlaufbahn ab.
Alle westlichen Nationen waren überrascht und beunruhigt. Es gab bisher keine geheimdienstlichen Informationen, dass China einen effektiven Killersatelliten baut, der andere Satelliten in der Erdumlaufbahn angreifen und zerstören kann. Die Meldung kam überraschend und wurde verschiedentlich auch als chinesische PR-Aktion eingestuft.
Der Kuss des Friedens
Im Hauptquartier des MI6 in London herrscht Ratlosigkeit.
Chief und der Verteidigungsminister sitzen in einem großen Büro im neuen Hauptquartier, das im Unterschied zum alten, getarnten „Fabrikgelände“, unverkennbar ist. Es wirkt, von der Themse aus betrachtet, wie ein Aztekentempel, den man auf dem Fundament eines Hochbunkers aus dem zweiten Weltkrieg errichtet hat. Der allgemeinen Architektur in London vollkommen entrückt und zugleich martialisch, wie eine moderne Festung.
Minister und Geheimdienstchef haben allerdings andere Probleme und befinden sich in einem angespannten Gespräch.
„Was wissen wir denn nun genau“, fragt der Verteidigungsminister gerade seinen MI6-Chef und wirkt dabei durchaus gereizt.
Chief bleibt cool. Er weiß, dass auch die Amerikaner nicht mehr wissen und insgesamt die „Five Eyes“ das Thema sträflich vernachlässigt hatten. Vielleicht, weil die technische Observation in China so schwierig geworden ist.
Das chinesische Internet ist gespickt mit Algorithmen, die jede Aktivität auf ihren Auslöser zurückführen können und so die komplette Kontrolle haben. Außerdem ist das Internet in China von einer „chinesischen Mauer“ umgeben, die Experten auch als die „big firewall“ bezeichnen. Da ist kaum ein Durchkommen. Wie in einem Kokon mittendrin und trotzdem getrennt, befindet sich das militärische Intranet der Chinesen, die vom Versteckspiel wirklich etwas verstehen. Da ist kein rankommen.
„Der Satellit wird von den Chinesen „Hépíng zhiī wen“ genannt, was so viel bedeutet, wie „Kuss des Friedens“. Dieser Name deutet auch auf die Funktionsweise des internen Waffensystems hin, das auf eine sehr starke Annäherung des Satelliten an das Zielobjekt angewiesen ist“.
Chief projiziert eine Grafik in den Raum, gut sichtbar für den Verteidigungsminister, der aufsteht und sich die Sache genauer anschaut. Dabei geht er um die Grafik herum, die, wie ein Hologramm, im Raum schillert.
„Das ist ja primitiv“, ruft der Minister aus, „diese kleinen Spikes an der Oberfläche sollen unsere Satelliten zerstören“?
„Ja“, entgegnet sein Untergebener, „das Ganze funktioniert wie ein Morgenstern aus dem Mittelalter. Das Ziel wird angerempelt und dabei zerstört“.
Der Verteidigungsminister schüttelt den Kopf.
Chief setzt nach. „Die eigentliche Intelligenz liegt in der Steuerung des Satelliten. Diese muss genial sein, weil sie durch die Orbitalkräfte wirkt. Wir wissen nur nicht genau wie. Aber der Satellit kommt mit einem relativ kleinen Protonenkraftwerk aus“.
„Und wir wissen nichts über diese Methode“, fragt der Minister.
„Wir wissen, dass wir nichts wissen“, antwortet Chief und kratzt sich die Glatze, „die Chinesen haben uns vollkommen überrumpelt“!
„Schicken Sie Ihre Leute dahin und besorgen Sie uns die Konstruktionspläne“, antwortet der Minister herrisch.
„Keine Chance“, antwortet der Geheimdienstchef, so sicher, als wollte er sagen, „das wissen Sie doch, Herr Minister“!
„Dann besorgen Sie uns etwas anderes. Den Konstrukteur, einen Prototypen, ein Modell, den Satelliten selbst. Irgendwas“!
Chief seufzt. „Sir, ich habe niemanden, der das kann. Ich hatte einen Spezialisten, aber den haben die Chinesen vor einem Jahr zusammengeschossen“.
„Einsatzfähig“, fragt der Minister.
„Ich weiß nicht“, antwortet Chief, „er ist aus dem Dienst ausgeschieden, bevor ihn die Chinesen erwischt haben. Ich weiß nur, dass er überlebt hat und ein halbes Jahr in Rehabilitation war. Im Augenblick weiß ich nicht einmal, wo er sich aufhält“.
Der Verteidigungsminister ahnt, von wem die Rede ist. Die harmlose Ansprache seines Geheimdienstchefs bezog sich auf den berühmtesten Agenten des MI6 nach James Bond. Marcus Brand, der das chinesische Virus, während der zurückliegenden Pandemie, als Teil des Biowaffenprogramms der Chinesen enttarnt hatte und damit einen „neuen kalten Krieg“ zwischen dem Westen und den Chinesen eingeläutet hatte.
Der Verteidigungsminister denkt einen Augenblick nach. „Dieser Agent ist tatsächlich ein Spezialist, der uns weiterhelfen könnte“. Er wendet sich an Chief und schaut ihn scharf an. „Finden Sie den Mann und holen Sie ihn her. Ich will ein Gespräch!“
Kapitel 2
Marc Brand betrachtet das muntere auf und ab seiner Füße, während er in die Pedalen tritt. Dieser Anblick gibt ihm schon seit einem halben Jahr Mut. Damals in der Rehaklinik war es noch eine Maschine, welche die Pedalen zum Rotieren brachte. Seine Beine waren dazu nicht in der Lage.
Die Kugel, die in seinen Hals eingedrungen war, hatte sein Rückenmark verletzt. Es war nur dieser glückliche Umstand, dass er sofort in ein neurochirurgisches Zentrum geflogen wurde, wo sein Halsmark dekomprimiert wurde, dass er überlebte und jetzt sogar wieder laufen kann. Zurück bleiben Gefühlsstörungen in seinen Füßen, die er nicht einmal klar beschreiben kann. Es fühlt sich an, als habe er eine dicke Wachsschicht auf seinen Zehen, die ihm die sensible Wahrnehmung nur noch in sehr indirekter Weise erlaubt. Das Lageempfinden ist aber intakt.
Der Ex-Agent macht eine Pause und steigt von seinem Fahrradtrainer ab. Tia Nam, die seine Übungen beaufsichtigte, reicht ihm lächelnd einen heißen Waschlappen, mit dem er die angestrengten Beinmuskeln entspannt. Er legt sich auf die Couch und reibt seine schmerzenden Waden ab.
„Du warst heute ziemlich gut“, lobt Tia Nam und lacht ihn an, wobei ihre gleichmäßigen Zähne etwas zu leuchten scheinen. Brand liebt den Anblick seiner lachenden Freundin und nickt heftig. „ Fünfunddreißig Minuten Volllast, das ist meine Bestleistung seit dem Schuss“!
Sie nickt. „Ich bin froh, dass Du Dich erholt hast“, ihr Blick verdunkelt sich etwas, „manchmal dachte ich, dass Du es vielleicht nicht schaffst“.
Brand grinst sie an und antwortet: „Das dachte ich sogar ziemlich oft. Aber dann hat mir euer chinesisches Schwein geholfen, Du weißt schon“.
Tia Nam setzt sich zu ihm auf das Sofa und umfasst seinen Oberkörper.
„Ja, ich weiß. Du bist dieses willensstarke Schwein. Das habe ich immer gewusst. Du wirst auch hundert Jahre alt werden“.
Brand winkt ab. „Vielleicht nicht Hundert, sondern nur Neunzig. Das wäre schon mehr als genug“.
Das Paar befindet sich in einer Wohnung mit einem wunderschönen Blick auf den Atlantik. Sie liegt in einem Küstenort unweit von Birmingham in Mittelengland. Mehr soll nicht gesagt werden, denn Mr. und Mrs. Muller, wie sie offiziell heißen, sind untergetaucht, nachdem der Agent aus der Rehaklinik entlassen wurde. Beide sind sich sicher, dass der militärische Geheimdienst der chinesischen Armee sie noch auf der Rechnung hat. Vielleicht sogar mehr, als je zuvor.
Brands Ermittlungen hatten massive Folgen für die Chinesen. Das Land ist inzwischen politisch isoliert und wirtschaftlich mit umfangreichen Sanktionen des Westens belegt worden. Das hat auf der anderen Seite den Nachteil, dass die westlichen Geheimdienste, auch der MI6, in China kaum noch Boden unter den Füßen haben. Ausländer leben dort in einer Situation der Dauerüberwachung, insbesondere, wenn sie aus Großbritannien oder den USA kommen.
Im Prinzip handelt es sich um einen unerklärten Kriegszustand mit den Commonwealth-Staaten und Teilen der Europäischen Union, die sich immer noch nicht klar gegenüber China positionieren konnte. Das Staatenbündnis zeigt darüber einen deutlichen Zerfallsprozess.
Den Ex-Agenten interessiert das nicht mehr. Er hat genug von der Macht, insbesondere von der dunklen Seite der Macht, mit der er sein ganzes Berufsleben zu tun hatte. Es ist vorbei.
Der Agent geht unter die Dusche und freut sich auf „Ham and Eggs“ als Frühstück, das Tia Nam gerade zubereitet. Nach dem Morgenkaffee möchten beide an den Strand gehen und Treibgut sammeln. Tia Nam hat eine kleine Werkstatt angemietet, in der sie Treibgut zu Kunstgegenständen verarbeitet. Tatsächlich hat sie schon einiges davon verkauft und freute sich, als sie am Strand einen fast kreisrund gewachsenen Ast aus Eiche fand. Inzwischen ist daraus ein Kronleuchter geworden. Ein Kunsthändler aus Birmingham, der ihr schon einiges abgenommen hat, zeigt Interesse und will annähernd eintausend Pfund dafür geben. Ein stolzer Preis für ein Stück Treibholz.
Der Tag ist etwas regnerisch, aber das stört die beiden nicht. Sie gehen in Gummistiefeln die lange Strandpassage entlang, die bis zum Nachbarstädtchen reicht. Sie brauchen etwa eine Stunde dafür und eine knappe Stunde zurück. Der Atlantik ist aufgewühlt, was eher ungünstig für das Auffinden interessanter Gegenstände am Strand ist. Die Wellen ziehen die Dinge immer wieder ins Meer zurück und manche tauchen in der weißen Gischt gar nicht auf.
Erst im letzten Augenblick bemerkt Marc ein großes Stück Aluminium, das von den Wellen als Spielball benutzt wird. Es kann nicht viel wiegen und Brand möchte Tia Nam eine Freude machen. Er ruft sie heran.
Die kleine Chinesin nimmt Abstand von einem Stein, den sie gerade begutachtet hatte und kommt zu Brand an die Wasserlinie.
„Siehst Du das Stück Aluminium dort? Wie es glänzt“, fragt er sie.
Tia Nam nickt und ist augenblicklich interessiert. „Meinst Du, wir kommen dran“, fragt sie zurück.
Brand konzentriert sich auf das unruhige Stück Leichtmetall, das eine gebogene Oberfläche besitzt und vielleicht von einem Boot stammen könnte, eventuell sogar von einem Flugzeug.
„So groß wie ein Medizinball“, schätzt der Ex-Agent.
Plötzlich stürmt er los, als sich die Welle, die das gute Stück anspülen wollte, mit ihrem Besitz wieder zurückzieht. Er rennt einige Meter ins Meer, greift das Metallstück und sprintet nun vor der zurückkommenden Welle davon. Das ganze Manöver gelingt ihm, ohne nennenswert nass zu werden und Tia Nam klatscht begeistert in die Hände.
„Marc“ schreit sie in den stürmischen Wind, „Du bist in Höchstform“!
Die beiden lassen sich lachend auf einer Steinmole in sicherer Entfernung vom Wasser nieder und betrachten ihre Beute.
Tia Nam staunt nicht schlecht, als sie ein kleines aufgeprägtes Banner der amerikanischen Flagge auf der Metalloberfläche entdeckt. Darunter identifiziert Brand noch die Buchstaben SA.
„USA“, ruft die Chinesin begeistert und will ihrem Geliebten die Beute entreißen. Doch der hält sie fest und starrt konzentriert auf das Stück.
„Nein“, sagt er dann, „das heißt nicht USA. Die Buchstaben passen nicht unter die Flagge“. Er schaut Tia Nam verwundert an und reicht ihr das Metall. „Das“, sagt er und wirkt irritiert dabei, „das heißt NASA“!
Die beiden bleiben einige Augenblicke stumm und schauen auf den Fund, der noch verhältnismäßig gut erhalten ist. Dann sagt Brand:
„Vermutlich ein Stück von einem Satelliten“.
„Wow“, sagt Tia Nam, „das Ding ist aus dem All!“ Sie beginnt zu lachen. „Es ist aus dem All zu uns gekommen“!
Brand nickt und schaut auf die verkohlten Ränder des Metallstücks. „Vermutlich war es da oben“.
Dann schauen beide in den Himmel, als würden sie noch mehr Teile erwarten, die auf sie herabfallen. Aber alles was sie bekommen sind fette Regentropfen, die von einem dunklen Atlantiktief kommen. Zu ungemütlich für die beiden, deren Regensachen langsam durchlässig werden. Sie laufen nachhause, so rasch wie es geht. Ihr Fundstück fest unter dem Arm haltend.
„Wir hängen es ins Wohnzimmer“, ruft Brand gegen den Wind.
„Mindestens“, ruft Tia Nam zurück.
Am Nachmittag begutachten Sie ihren Fund in der Werkstatt von Tia Nam.
„Es ist eben nur ein kleines Stück, das von verschiedenen Satelliten stammen könnte“, meint Brand, während Tia Nam kleine Stichverletzungen am Metall feststellt, „aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht sehr weit oben war“.
„Wie meinst Du das“, fragt Tia Nam.
„Das ist Aluminium. Normalerweise verbrennt es restlos beim Widereintritt in die Atmosphäre“.
„Das ist allerdings mysteriös“, antwortet sie.
„Vielleicht ist es nur bis in die Stratosphäre aufgestiegen, an einem Ballon vielleicht. Das wäre eine Erklärung. Ein Stratolit“.
Tia Nam schaut Marc nachdenklich an. „Was macht ein amerikanischer Stratolit vor der englischen Küste“, fragt sie.
„Warum ist er abgestürzt“, lächelt Brand, weil er eine Gegenfrage gefunden hat.
„Vielleicht wurde er abgeschossen“, antwortet die Chinesin.
„Gut möglich“, meint der Ex-Agent und setzt nach einer Pause erneut an. „Das ist zumindest wahrscheinlicher, als ein Atmosphäreneintritt, den dieses Metall nicht überlebt hätte“.
„Aber warum finden wir ihn hier“, fragt Tia Nam, „und nicht in Nordamerika oder sonst wo“?
„Jetstream“, fällt Marc als Antwort ein, „ der polare Jetstream verläuft oft direkt über uns und geht von West nach Ost.“
„Damit ist die Sache erklärt“, meint Tia Nam und beginnt sich dem ästhetischen Wert ihres Fundstückes zuzuwenden.
Brand kocht den beiden einen Tee, da es fünf Uhr geworden ist. Dann nimmt er sein Convertible und surft ein bisschen im Internet., während Tia Nam verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten für das Satellitenstück ausprobiert.
Tatsächlich findet Brand, dass das Stück mit einem Beobachtungssatelliten der NASA eine gewisse Ähnlichkeit hat. Solche Geräte werden tatsächlich an Stratosphären-Ballons betrieben. Sie sind wegen ihrer hohen Auflösung sehr beliebt. Aber wo kommt dieses Stück her?
Auf einer Insiderseite findet der Ex-Agent einen Beitrag, der über Spionageballons der USA geht, die in Russland und China eingesetzt werden. Der Vorteil ist der Preis, der viel niedriger ausfällt, als bei normalen Satelliten.
Ein weiterer Vorteil ist aber, dass solche Ballons über Tage, teilweise über Wochen stationär ein Gebiet überwachen können, vorausgesetzt, sie bleiben unentdeckt und geraten nicht in den Jetstream, durch den sie schnell weggetragen werden können. Der polare Jetstream kann dabei bis in subtropische Regionen mäandrieren und Flugobjekte in Schlangenlinien um den Erdball treiben.
In einem weiteren Hack eines CIA-Berichtes findet Brand dann tatsächlich Bilder von etwa dreißig Spionagesatelliten, die an Ballons hängen und wirklich Ähnlichkeiten mit ihrem Fundstück aufweisen.
Der Artikel, in dem diese Bilder auftauchen, beschreibt die Anstrengungen der Amerikaner, die Weltraum- und Rüstungsaktivitäten der Chinesen zu verfolgen. Ein Schwerpunkt der Observation liegt über der Wüste Gobi, von wo aus, Raketen starten, wo es Landeplätze der Chinesen gibt und streng geheime Sperrgebiete. Von dort könnte der Satellit sogar gekommen sein.
„Vielleicht“, sagt Brand zu Tia Nam, während sie eine Pause machen, „vielleicht kommt unser Satellit aus der Gobi-Region“.
Brand grinst in das erstaunte Gesicht der Chinesin.
„Er könnte um den halben Erdball geflogen sein“, lächelt er erfreut, „bevor wir ihn gefunden haben“.
Die Chinesin ist beglückt über diese weitere Aufwertung ihres „Kunstobjektes“. Sie ist gerade damit beschäftigt eine Halterung aus Edelstahl mit gedrechselten Füßchen aus Kirschholz dafür zu basteln. Sie möchte eine große Obstschale daraus machen.
„Gute Idee“, findet Brand.
Kapitel 3
John Rutter steht einige Tage später in Tia Nams Werkstatt und begutachtet ihre neue Obstschale. Er ist Kunsthändler und handelt auch mit Design-Objekten. Er war es, der Tia Nam gewissermaßen entdeckt hat.
„Mrs. Muller“, sagt er anerkennend, „so etwas habe ich noch nie gesehen“!
Tia Nam nickt erfreut. „Ein Stück von einem Satelliten“, sagt sie, „jetzt ist es eine Obstschale“.
John Rutter lächelt. „Eine Satellitenschüssel also“, witzelt er, stößt dabei aber auf ein ernstes Gesicht der Chinesin, die das gar nicht komisch findet.
„Nun gut“, räuspert sich Rutter, „ich glaube, das Stück lässt sich gut verkaufen und ich überlege sogar, ob ich es zu meiner nächsten Auktion nach London mitnehme. Es ist schließlich absolut einzigartig“.
Tia Nam lächelt wieder. „Lassen Sie es mich wissen“, sagt sie würdevoll, „eventuell möchte ich bei der Auktion dabei sein“.
Rutter nickt.
Er beginnt die Schale von allen Seiten zu fotografieren und sagt am Schluss nüchtern. „Ich lasse es abholen, sind tausend Pfund genug“?
Tia Nam nickt erfreut und fragt sich gleichzeitig, wie viel Rutter wohl bei der Auktion dafür bekommen wird.
„Mit welchem Startpreis werden sie beginnen“?
Rutter zögert kurz. Dann antwortet er: „Ich denke mit eintausend Pfund“.
Tia Nam lacht.
Rutter grinst.
Die beiden sind sich einig.
Am Abend erzählt Tia Nam Brand von ihrem Verkaufserfolg.
Marc lächelt. „Gratulation“, ruft er.
„Marc“, sagt Tia Nam schnell, „Rutter will es auf seine Auktion mitnehmen, und ich werde mitfahren“.
Brand starrt Tia Nam kurz an. Dann blickt er nach unten.
„Ich weiß“, sagt sie, „wir sollten uns nicht in der Öffentlichkeit sehen lassen. Aber es ist ein kleines Auktionshaus mit wenigen Besuchern. Die Gefahr erkannt zu werden, ist wirklich gering“.
Brand sieht, wie glücklich seine Freundin ist und möchte ihr in diesem Augenblick nichts abschlagen.
„Na gut“, sagt er, „aber für mich ist London ein zu großes Risiko. Ich muss Dich allein fahren lassen“.
Tia Nam nickt eifrig. „Ich habe ja den alten Rutter bei mir“, lacht sie.
Brand schüttelt den Kopf über so viel Enthusiasmus und gibt sich geschlagen.
„Ich könnte Dich wohl kaum abhalten“!
Eine Woche später sitzen Rutter und Mrs Muller in dem alten Daimler des Kunsthändlers und unterhalten sich vergnügt. Die Fahrt nach London vergeht schnell. Die Objekte hatte Rutter bereits an das Auktionshaus geschickt.
„Ich bin jedes Mal wieder aufgeregt“, gibt der ältere Mann zu. „Auktionen sind wirklich sehr spannend“.
„Und lukrativ“, ergänzt die Chinesin.
Rutter nickt. „Bisher habe ich immer ganz gut dabei verdient“.
Die Auktion beginnt um 14.00 und die beiden haben noch Zeit für ein Lunch in einem kleinen Bistro. Rutter entwickelt dabei einen beträchtlichen Appetit und verdrückt drei Sandwiches. Die Chinesin staunt nicht schlecht.
Mrs Muller wird inkognito in der Auktion sitzen. So ist es verabredet. Rutter wird bei der Auktion nicht darauf hinweisen, dass die Künstlerin sich im Raum befindet.
Rutter hat das Satellitenstück begutachten lassen, so dass die Herkunft außer Frage steht. Es handelt sich um die Reste eines Stratoliten der Nasa, der für Beobachtungszwecke eingesetzt wird.
Als die Schale an die Reihe kommt, gibt es gleich drei Bieter, die sich den Kauf streitig machen. Es sind erkennbar professionelle Händler, denn sie bieten sehr vorsichtig und behalten sich dabei gegenseitig im Auge. Am Ende zahlt es sich für einen der drei aus. Die Schale wird für zweitausendfünfhundert Pfund versteigert. Rutter lächelt zufrieden und Tia Nam fühlt sich sehr stolz und glücklich.
Einer der beiden Bieter, die leer ausgegangen sind, spricht Rutter am Ende der Auktion an.
„Sir, mich würde interessieren, ob es sich wirklich um das Stück eines Satelliten handelt. Darf man fragen, wo es die Künstlerin gefunden hat“?
„Natürlich“ antwortet Rutter, „ es wurde an der Westküste, am Strand gefunden“.
„Bemerkenswert“, antwortet der Mann, der sich nicht vorgestellt hat, „dann hat dieses Stück Blech wohl einen sehr weiten Weg hinter sich“.
„Das denke ich auch“, antwortet Rutter und wendet sich Tia Nam zu, die sich neben die beiden gestellt hat.
„Ein erfolgreicher Tag für mich, meine Liebe. Fahren wir nachhause“?
Tia Nam nickt. Der Fremde verabschiedet sich kurz.
Dann begeben sich die beiden auf den Heimweg. Sie wollen den Weg nach Birmingham noch bis zum Abend schaffen. Rutter fährt, auf Grund seines Alters, nicht mehr gern in der Dunkelheit. Die beiden rechnen mit zwei Stunden Fahrtdauer nach Birmingham und dann noch einmal über eine Stunde an die Küste. Dann ist Rutter erst nach Einbruch der Dunkelheit zuhause. Was weder ihm, noch seiner Frau Mary besonders gefällt. Er versucht also den Highway etwas schneller anzugehen, als sonst.
Etwa einhundert Kilometer nördlich von London will der alte Daimler plötzlich nicht mehr. Rutter bekommt ein leicht rotes Gesicht und wendet sich an Tia Nam. „So soll ein erfolgreicher Tag nicht enden“.
Die beiden haben Glück. Ein zweiter Wagen fährt auf den Standstreifen und zwei Männer steigen aus. Sie bieten Rutter ihre Hilfe an. Sie sehen aus wie Büroangestellte, die gerade auf dem Heimweg sind. Rutter willigt ein und die beiden steigen um und lassen sich in die nächste Ortschaft fahren, wo es eine Werkstatt mit einem Abschleppwagen gibt. Vor der Werkstatt bieten sich die Männer noch an, zu warten, bis Rutter wieder herauskommt. Tia Nam steigt mit ihm aus, und vertritt sich etwas die Füße.
Rutter geht in das kleine Büro des Betriebes, das glücklicherweise noch geöffnet hat. Er muss auf den Meister warten, der sich zehn Minuten Zeit lässt, bis er auftaucht und Rutters Problem anhört. „Kein Problem“, meint der Mann, „wir holen ihren Wagen hierher. Wenn es eine Kleinigkeit ist, können Sie heute noch weiter fahren“.
Rutter ist erleichtert und geht hinaus zu Tia Nam. Im ersten Augenblick realisiert er nicht, dass sich etwas verändert hat und geht noch ein paar Schritte in Richtung Straße. Dann merkt er plötzlich, dass der Wagen mit den Männern verschwunden ist. Tia Nam ist auch nicht mehr da. Er ruft laut nach Mrs Muller und schaut sich um. Aber der Platz vor der Werkstatt ist leer. Nur der verwunderte Kfz-Mechaniker steht dort und fragt ihn: „Alles in Ordnung, Sir“?
„Ich weiß nicht“, antwortet Rutter, „aber ich glaube, ich muss die Polizei verständigen“.
Kapitel 4
Marc Brand schläft nicht mehr, seit Tia Nam verschwunden ist. Es ist zehn Uhr am Vormittag und er geht in der Wohnung auf und ab, wie üblich ohne Frühstück. Er kann morgens nichts mehr essen. Er trinkt einen Kaffee. Dann grübelt er.
Der Ex-Agent hat alle offiziellen Möglichkeiten ausgeschöpft, um seine Freundin wiederzufinden. Es läuft eine landesweite Fahndung. Zuletzt wurde der Fall an Europol übermittelt.
Seit einigen Tagen steht Brand auch in Kontakt mit seinem Ex-Arbeitgeber, dem Mi6. Chief hatte ihm Hilfe zugesagt und man hatte tatsächlich Aufzeichnungen einer Überwachungskamera in dem kleinen Ort Bucknell ausgewertet, welche regelmäßig Fahrzeuge an einer Ampelkreuzung registriert. Dabei hatte sich herausgestellt, dass das Fahrzeug der beiden Männer, eine blauer Toyota nicht richtig registriert war. Es handelte sich offensichtlich um falsche Kennzeichen.
Genau dieser Umstand hat Brand Hoffnung gegeben. Denn wenn es sich um eine professionelle Entführung gehandelt hat, dürfte Tia Nam noch am Leben sein. Man würde sie verhören oder brutaler ausgedrückt, ausquetschen wollen. Welcher Dienst dahinter steckt, ist dem Agenten aber nicht klar. Denn die Männer waren eindeutig Engländer ohne irgendwelche asiatischen Merkmale.
Dennoch steht ein Sexualmord im Raum und quält den Ex-Agenten ganz besonders. Denn damit wäre jede Hoffnung verloren.
Es ist keinesfalls so, dass der Mi6 einem Ex-Agenten ohne jede Gegenleistung hilft. Chief hatte vor einigen Tagen Bedingungen für Brand gestellt. Die Hauptbedingung war, dass er wieder in den aktiven Dienst einsteigt und die Lücke füllt, die nach seinem Weggang in der China-Frage entstanden war. Mit anderen Worten musste er sich verpflichten, die militärischen Aktivitäten der Chinesen, im Zusammenhang mit dem Killer-Satelliten, zu untersuchen, welcher erstaunlich effektiv war. Bereits fünf amerikanische und ein europäischer Satellit sind diesem „Ding“ zum Opfer gefallen. Die internationalen Protestnoten an die chinesische Regierung reißen seither nicht ab.
Der Agent hatte seinen Vorgesetzten trotzdem um ein Moratorium von drei Wochen gebeten, weil er selbst nach seiner Freundin suchen wollte.
Er war an dem Ort, an dem Tia Nam verschwand und fragte in der Kfz-Werkstatt nach, suchte nach möglichen Zeugen. Er untersuchte den Tatort und fand tatsächlich eine Haarnadel Tia Nams, was auf einen Kampf hinweisen konnte. Er suchte die Archive von Schottland-Yard nach ähnlichen Fällen ab und fand tatsächlich eine Gruppe von verdächtigen Männern, die Frauen aus sexuellen Motiven heraus entführt hatten. Allerdings war keiner von denen Engländer, alle waren zugewandert, meist aus islamischen Ländern.
Einmal glaubte er, eine Spur zu haben. Ein ganz ähnlicher Vorgang etwa drei Monate zuvor im Süden von London. Es waren auch zwei Männer, die eine junge Ausländerin entführt hatten. Er hatte Rutter zur Polizei geschleppt und ihn die Fahndungsfotos in diesem Fall durchsehen lassen, aber der hatte niemanden erkannt, konnte aber zwei Phantombilder abgeben. Seit zwei Wochen hängen diese Bilder überall, doch niemand scheint diese Männer zu kennen.
„Es verläuft alles im Sande“, sagt Brand vor sich hin, während er an diesem Vormittag durch die Wohnung geht. Er ist sich fast sicher, dass sie nicht zurückkehren wird. An diesem Ort ihres Glückes wird es nichts mehr geben, als Trauer. Der Agent zündet sich eine Zigarette an und betrachtet das Bild seiner Freundin, das auf einer kleinen Kommode steht. Es wirkt unbedeutend. In seiner Erinnerung finden sich viel größere und schönere Bilder Tia Nams. Die wird er mitnehmen.
Der Agent packt seine Sachen in einen Koffer und lässt ihn von einem Boten abholen. Tia Nams Sachen lässt er unverändert. Der Bote wird seinen Koffer nach London aufgeben, wo er in eine kleine Pension am Stadtrand gebracht wird, die er noch aus früheren Zeiten kennt. Das wird sein neues Zuhause sein. Kurz spielt er mit dem Gedanken, die Wohnung an einen Makler zu übergeben, damit dieser sie verkauft, aber dann verwirft er ihn.
„Nein“, sagt er laut zu sich, „diese Wohnung wird unverändert bleiben, bis ich von meinem Einsatz zurückkehre“, er stockt kurz, „oder nicht zurückkehre“.
Dann nimmt er seine Jacke und verlässt das Haus.
Die Pension liegt im Osten Londons in der Ingleby Road, im Stadtteil Chadwell-St. Mary. Brand kennt sie gut, aus der Zeit, als er alkoholkrank war. Damals hat er monatelang dort gelebt und sich wohl gefühlt. Die Wirtin ist eine gläubige Methodistin und hat den Agenten damals, mit ihrer gütigen Strenge, vom Alkohol ferngehalten. Manchmal kam es ihm so vor, als hätte die kleine, dicke Frau ihn in ihr Herz geschlossen. Sie verwechselte dabei seinen Familiennamen mit Brad und sprach dies sehr langgedehnt und weich aus. „Bräääd, mein Lieber“, pflegte sie zu sagen, „es gibt am Tag fünf Zeiten zu denen Sie trinken müssen. Aber keinen Alkohol, sondern Tee, viel, viel Tee!“
Sie brachte ihm am frühen Morgen, vormittags gegen Zehn, nach dem Mittagessen, das es jeden Tag in der Pension gab, zur Tea-Time und am Abend gegen zwanzig Uhr eine große Kanne mit schwarzem Tee. Damals hielt Brand das für einen seltsamen Tic der älteren Dame, ihre Pensionsgäste mit Tee abzufüllen. In Wirklichkeit war es ihre Methode, die Alkoholiker, welche bei ihr Unterkunft gefunden hatten, in einer festen Tagesstruktur zu beschäftigen. Denn meist waren sie teilnahmslos und gelangweilt den Leben gegenüber und verspürten dann zunehmenden Druck, sich von irgendwo Hochprozentiges zu besorgen.
Sie beschäftigte ihre Gäste auch in Haus und Garten und begründete das offiziell mit den günstigen Zimmerpreisen. Brand hatte den Eindruck, dass sie den Männern gern bei der Arbeit zuschaute, beobachtete, wie sie ins Schwitzen gerieten. Alkoholiker geraten bei Aktivität schnell ins Schwitzen. Sie hatte sogar einen kleinen Tischtennisplatz, den sie großspurig als Sportplatz bezeichnete, und führte dort regelrechte Meisterschaften durch.
Maggy integrierte jeden.
Aber wer einen Rückfall hatte, flog raus. Maggy, so heißt die Inhaberin der Pension, kannte hier keine Gnade. Bei einem Rückfall endete ihr Christentum, wobei sie Rückfall so definierte, dass jemand wirklich betrunken war. Wenn ein Gast aber eine Flasche Whiskey oder Ähnliches langsam und heimlich leerte und dabei nur eine dezente Fahne hatte, sagte sie nichts. Sie schlich sich bei der nächsten Gelegenheit in sein Zimmer und entwendete ihm seinen alkoholischen Tröster.
„Finden Sie Trost bei Gott“, sagte Maggy regelmäßig, wenn sich ihre Gäste im Frühstücksraum versammelten und lud sie sonntags explizit in die Kirche ein. Brand war nie hingegangen, was ihm Maggy durchaus verübelte. Aber eben nicht zu sehr. Sie mochte ihren Mr. Brääd. Wohl auch ein Grund, dass sie ihm nun sofort ein Zimmer anbot, als er anrief. „Sie müssen nichts sagen, Brad“, sagte sie schnell, „sie bekommen morgen ihr Zimmer, solange sie möchten. Es ist gerade frei geworden“. Das war alles.
„Eine famose Frau“, denkt Brand, als er mit dem Zug in den kleinen Vorort unterwegs ist.
In der Ingleby Road gibt es vor allem Reihenhäuser, die aus ehemaligen Mietskasernen für Arbeiter abgetrennt und umgebaut wurden. Einige dieser größeren Mietshäuser weisen jedoch ihren alten Grundriss auf und beinhalten acht bis zehn kleine Wohnungen.
Die Pension von Maggy besteht aus zwei Häusern, die auf einem etwas größeren Grundstück stehen. Eines steht wie ein Reihenhaus parallel zur Straße und ein weiteres, größeres Haus steht, im rechten Winkel dazu, hinter dem Vorderen. Das ist die Pension. Gefrühstückt wird im Reihenhaus, wo auch die Rezeption ist.
Das Grundstück ist sehr üppig mit Sträuchern bewachsen, bei denen es ständig etwas zu beschneiden gibt. Außerdem ist die lange Hecke, die das Grundstück einfasst und etwa zwei Meter hoch ist, ein echter Dauerarbeitsplatz. Morgens gibt die Wirtin den Arbeitsplan für die Bewohner heraus, der so gestaltet ist, dass jeder der Gäste mindestens eine Stunde am Tag körperlich arbeiten muss. In der kalten Jahreszeit werden dann die Zimmer renoviert, aber auch die zahlreichen Obstbäume beschnitten. Maggy findet immer irgendetwas für die acht bis zehn, ausschließlich männlichen, Bewohner ihrer Pension.
Sie begrüßt Brand mit einer herzlichen Umarmung, als er den Raum mit der Rezeption betritt und zeigt ihm seinen Koffer, der vor ihm eingetroffen ist. Der Koffer ist nicht mehr ganz sorgfältig verschlossen, was der Agent mit einen Schulterzucken quittiert. Er weiß, dass Maggy jeden Koffer, der eintrifft, nach Alkohol durchsucht.
„Maggy“, sagt Brand, nachdem sie ihn hinreichend geherzt hat, „ich komme nicht wegen des Alkohols. Ich werde in London arbeiten und auch im Ausland und brauche einen Stützpunkt“.
„Aber ein bisschen werden Sie uns doch helfen, Brad“, antwortet die Wirtin mit einem schmollenden Lächeln. „Natürlich“, antwortet der Agent“, wo immer ich kann“, und lächelt offen zurück. „Ich werde nur oft nicht da sein, weil ich Einsätze von mehreren Wochen Dauer habe. Das Zimmer bezahle ich für ein halbes Jahr im Voraus“.
Maggy ist zufrieden. „Einer weniger, dem ich Arbeit suchen muss. Ich freue mich, dass Sie hier sind, mein Lieber“. Dann wird ihr Blick ernster. „Aber warum kommen sie jetzt zu mir. Eine Wohnung würde es auch doch auch tun“.
Brand schaut leicht nach unten und blickt Maggy dann in ihre graugrünen, kleinen Augen. „Ich bin allein“, Maggy, „ich brauche einen Ort an den ich zurückkehren kann, wo jemand mich erwartet“.
Maggy schweigt einen Augenblick. Sie hat verstanden, dass ihr ehemaliger Gast einen Rückfall fürchtet und die Stabilität ihrer Pension sucht, um sich davor zu schützen.
„Sie sind ein interessanter Mensch, Brad. Ich habe nie einen Gast gehabt, der vorbeugend zu mir kommt. Sie führen ein unabhängiges Leben. Sie sind ein Alkoholiker und trotzdem ein starker Mensch. Das kenne ich so nicht“.
Sie lächelt Brand lange an und bekommt dann einen wichtigen Gesichtsausdruck.
„Aber ich habe schon damals gewusst, dass etwas Besonderes sind. Seien Sie uns willkommen“!
Brand lächelt geschmeichelt und bedankt sich herzlich. Dann nimmt er seinen nachlässig geschlossenen Koffer und trägt ihn auf sein altbekanntes Zimmer.
Kapitel 5
Brand sitzt in einem einfach eingerichteten Zimmer, den geöffneten Koffer vor sich und raucht eine Zigarette.
Er sollte jetzt eigentlich seine Sachen auspacken und in den eichenfarbenen Wandschrank hängen. Aber er zögert noch. Erinnerungen an seinen letzten Aufenthalt in diesem Zimmer steigen in ihm auf. Es sind zittrige und wirre Empfindungen, die ihn verunsichern.
Als er das letzte Mal in diesem Zimmer saß, hatte er den Halt verloren. Das weiß er noch und er erinnert sich, dass er damals seine Tasche mit Kleidung und ein paar Habseligkeiten nicht auspacken konnte. Es fehlte die Kraft. Die Dinge fielen ihm einfach aus der Hand.
Vielleicht ist das der Grund, dass er jetzt seinen Koffer nicht anfassen mag, vielleicht ist es auch etwas anderes, das ihn beunruhigt.
Soll er sich wirklich hier einrichten? Das Eingeständnis, dass er Maggy braucht, mit seiner Hose, seinen Hemden und dem Jackett auf den Bügel hängen und damit eingestehen, dass er bleiben muss, obwohl er nicht rückfällig geworden ist.
Brand nimmt die Zigarette von der einen in die andere Hand und wechselt sie wieder zurück. Er nimmt einen tiefen Zug und beobachtet dabei seine Hände. Sie zittern nicht.
Brand ist ein vorsichtiger, ruhiger und sehr überlegter Agent. Es war richtig, sich hier eine Unterkunft zu nehmen, bevor er seinen Auftrag ausführen würde. Die Sucht ist ein tiefer und sehr schmerzhafter Wesenszug, der ihn schon sein Leben lang begleitet. Das hier ist der richtige Ort für ihn, solange er niemanden hat.
Brand denkt an Tia Nam er versucht zu fühlen, wie es ihr jetzt geht, aber er fühlt nichts. Er nimmt es als ein schlechtes Zeichen, aber die Hoffnung gibt er nicht auf. Sie kann noch leben. Dieses eine Mal vertraut er seinem Dienst, dass man Tia Nam finden wird. Die Kontakte sind reichweitend, die Zusammenarbeit mit der Polizei funktioniert. Alle wissen Bescheid, dass sie die Person Nummer Eins ist, die derzeit gesucht wird. Mehr kann er nicht tun.
Bei dem Gedanken fühlt er sich klein und hilflos.
Der Agent, der körperlich eher im oberen Größenbereich rangiert, hat sich daran gewöhnt, dass er sich oft innerlich klein fühlt. Sein Psychologe in der Suchtklinik hatte ihm einmal gesagt, dass sein Ich von Größenvorstellungen eingekreist sei, die wie hohe Berge über ihm aufragen. An das Tal in der Mitte, wo er säße, käme dann nichts ran. Es sei wie eine Wüste. Diese Wüste spürt er nun, wo Tia Nam fort ist. Mit ihr hatte er ein fruchtbares Tal erlebt, mit ihr war alles normal.
Nun fällt er wieder zurück in die Dürre und Trockenheit seiner Persönlichkeit und die Verzweiflung wird von Tag zu Tag größer.
„Ich muss stabil bleiben“, sagt er für sich und drückt seine Zigarette aus. Nur wenn ich meinen Auftrag ausführe, bleiben sie an Tia Nam dran und erledigen ihren Teil. „Ich kann mich nicht gehen lassen“.
„Ich werde morgen meinen Dienst antreten. Mit diesem verdammten Satelliten fing es an und mit ihm wird es zu Ende gehen. Ich werde den Chinesen ihr Geheimnis schon aus dem Arsch ziehen. Ich werde gewinnen“.
Bei diesen Worten, die wie Beschwörungen klingen, geht es dem Agenten besser. Seine Beine werden fester und seine Schulter spannt sich. Er holt tief Luft. Dann beginnt er seinen Koffer auszupacken.
Am nächsten Morgen genießt er das karge Frühstück bei Maggy. Ein junger Mann mit eingefallenen Augen, dessen Haut von Tattoos bedeckt ist, stellt ihm einen Teller mit Porridge in die Durchreiche zur Küche. Dazu gibt es eine Tasse Kaffee. Maggy hält nichts von Luxus. Es lenkt vom Wesentlichen ab.
Die Regeln des Hauses hat Maggy für Brand etwas gelockert und flüstert ihm nach dem Frühstück zu, er solle irgendwas in die Abwesenheitsliste eintragen, die er bei Verlassen der Pension auszufüllen hat. „Wann kommen Sie zurück, mein Lieber“, fragt sie ihn dann etwas lauter, so dass es für die Anderen im Frühstücksraum vernehmbar ist. Brand kennt das Spiel und antwortet: „Spätestens zum Dinner“. Maggy grinst zufrieden. Brand hat die Regeln noch im Kopf. Das ist gut!
Im Bus, den er heute nach London nimmt, liest der Agent erstmals das Dossier über das chinesische Satellitenprogramm, das ihm Chief verschlüsselt auf seinen Black-Berry geschickt hat.
Das Dossier ist ziemlich klar formuliert und beschreibt die derzeit bekannten Methoden, mit denen die Chinesen jede Raketenabwehr aus dem Orbit heraus verhindern wollen. Der relativ primitive Killersatellit, der gerade erfolgreich gegen feindliche Satelliten vorgeht, scheint dabei nur der Anfang zu sein. Mit seiner stacheligen Außenhaut, wirkt er fast wie ein PR-Gag, der an den Corona-Virus erinnern soll, welcher auch, von China aus, um die Welt ging. Seine Konstruktion ist vor allem auf Stabilität und Lenkbarkeit ausgelegt. Schließlich soll er mit anderen Satelliten kollidieren und selbst funktionsfähig bleiben. Die Nasa ist überzeugt davon, dass die Chinesen komplexere Modelle in Arbeit haben und auch einen Raketentyp entwickeln, der vom Boden aus, kostengünstig, Satelliten abschießen kann. Im Fazit des Berichtes heißt es, dass China sich intensiv auf einen Weltraumkrieg vorbereitet und nicht weniger anstrebt, als langfristig das Orbit unter seine absolute Kontrolle zu bringen.
Brand weiß noch nicht, welche Zielpersonen der Mi6 für ihn vorgesehen hat. Diese Information wäre zu geheim und würde auch nicht verschlüsselt durch den Äther geschickt. Er wird sie persönlich von Chief bekommen.
Brand weiß allerdings, dass er dafür in die Wüste Gobi reisen muss und zwar auf eigene Faust, denn die Region innerhalb der Gobi, in der die Chinesen ihr geheimes Weltraumprogramm betreiben, ist öffentlich kaum zugänglich und extrem lebensfeindlich.
Sie besteht aus Sanddünen, die oft über einhundert Meter hoch sind und vereinzelten Seen, die meist versalzt und als Trinkwasser unbrauchbar sind. Der Sand brummt und kann dabei Dezibel-Werte eines tieffliegenden Düsenjägers erreichen. Ein Phänomen, das vor allem durch den häufigen Abgang kleinerer und größerer Sandlawinen erklärt wird. Die Sandoberfläche der Wüste wirkt dabei wie die Membran eines Lautsprechers und verstärkt das Geräusch aufeinanderprallender Sandkörner. Das macht es unmöglich, in der Wüste mit Richtmikrofonen zu arbeiten und schwierig, Bodengeräusche und Vibrationen, beispielsweise durch abhebende Raketen zu orten. Auch seismische Geräte sind hier überfordert. Von Satelliten aus, auch von Ballonsatelliten kann man die Region beobachten, aber, wegen des Geländeprofils und des herumfliegenden Sandes, nur, wenn man direkt über dem entsprechenden Zielobjekt ist. Drohnen versagen wegen der extremen Thermik und werden durch die stark sandhaltigen Winde gewissermaßen sandgestrahlt. Kleineren Flugzeugen im Tiefflug kann die Thermik die Tragflächen abreißen, während der Flugsand in kürzester Zeit den Motor lahm legt. An einem solchen Ort, kann nur ein Mensch, der extremste Risiken eingeht, unbemerkt beobachten und agieren.
Dieser Mensch wird wohl Marc Brand sein müssen, der im Bus sitzend, gerade über seine Chancen nachdenkt. Sie sind vielleicht etwas höher, als die Chancen, dass man seine Freundin, nach der Entführung, noch lebendig findet, aber nicht viel höher.
Es ist ihm fast schon egal. Ohne Tia Nam kann er jedes Risiko eingehen.
Er hat den Auftrag schon angenommen.
Kapitel 6
Im Hauptquartier ist es ruhig. Als Brand durch das Großraumbüro in Richtung des Head-Office geht, sind die meisten Plätze, die er einsehen kann, unbesetzt. Ungewöhnlich für einen Vormittag gegen zehn Uhr.
„Der Dienst hat auch schon bessere Tage gesehen“, murmelt er, bevor er die Tür zu Chiefs Büro öffnet.
Der sitzt am Schreibtisch und schaut erfreut auf, als er Brand durch die Tür treten sieht. Brand sieht, dass sein Vorgesetzter einen Haufen unbearbeiteter Dossiers auf dem Schreibtisch hat. So an die Fünfzig, schätzt der Agent.
Chief kennt den prüfenden Blick seines Agenten und lächelt. „Ja 00Y, Sie sehen ganz richtig. Krankenstand, Außendienst und Kürzungen! Die Dossiers bleiben jetzt an mir hängen. Auch diejenigen, die nicht Chefsache sind“.
Brand nickt.
„Wir haben übrigens Neuigkeiten in Bezug auf Ihre Chinesin. Der Wagen dieses Kunsthändlers, mit dem die beiden liegen geblieben sind, war eindeutig präpariert. Chief nimmt eine kleine transparente Plastiktüte aus einem Ordner und präsentiert sie dem Agenten. Brand schaut den Inhalt genau an.
„Die Halterung für das Schwimmerventil im Vergaser“, fragt er?
„Exakt“, bestätigt Chief und holt eine Lupe aus einer Schublade, die er über die Plastiktüte hält, „sehen Sie, mein Bester, die Halterung ist an dieser Stelle gebrochen, aber nicht ganz. Zur Hälfte wurde sie angeschnitten“.
Brand betrachtet den sauberen Schnitt, der tatsächlich nur die Hälfte der Halterung abgetrennt hat, genau. Mit einem solchen Defekt hält das Ventil vielleicht noch fünfzig bis hundert Kilometer und bricht dann komplett durch. Eine alte Methode, die er aus früheren Geheimdienstzeiten kennt, als Vergasermotoren noch üblich waren.
Dem Agenten fällt ein Stein vom Herzen. Seine Augen leuchten kurz auf. Er lächelt.
„In der Tat“, sagt er, „das ist die Handschrift eines Geheimdienstes“, seine Stimme klingt etwas belegt und er räuspert sich, „das bedeutet, dass Tia Nam noch leben kann“.
„Das glauben wir auch“, bestätigt Chief, „denn für den chinesischen Geheimdienst, ich denke an die vierte Brigade, ist die Chinesin sehr wertvoll. Sie hat hier viel aufgeschnappt und man könnte versuchen sie umzudrehen. Wenn sie klug ist, spielt sie mit“.
Chief erhebt sich von seinem Schreibtischsessel, reckt sich kurz und geht dann ein paar Schritte zu einem Bild, das über einem angedeuteten Kaminsims hängt. Ein farbiger Stich der Londoner Altstadt, aus der Zeit, bevor sie abgebrannt ist.
„Es gibt da allerdings noch eine andere Möglichkeit“.
Brand schaut auf den Rücken von Chief, der sich nicht zu ihm umdreht, während er weiterspricht.
„Die Entführung könnte inszeniert sein und die Chinesin, tatsächlich, eine Agentin der vierten Brigade, von Anfang an“.
Brand schüttelt entschieden den Kopf, was Chief nicht sehen kann, weil er sich mit Verzögerung seinem Gesprächspartner zuwendet.
Als Chief seinem Agenten ins Gesicht blickt, hat dieser erneut ein Leuchten in den Augen. Denn gerade war Marc Brand eingefallen, dass die These von der Agentin der vierten Brigade, die bestmögliche Hoffnung für Tia Nam bieten würde. Denn wenn sie von Anfang an ein falsches Spiel mit ihm und dem Mi6 gespielt hat, dürfte sie jetzt in Sicherheit sein und vielleicht sogar eine Belobigung von Peking bekommen.
Brand muss lachen. „Wenn ihre Vermutung zutrifft, dass Tia Nam eine chinesische Agentin der vierten Brigade ist, Sir, dann würde ich jetzt genau an den richtigen Ort reisen, um sie wieder zu sehen. Das Hauptquartier der vierten Brigade liegt zwar nördlich von Peking, aber in der Baidan-Jaran-Wüste gibt es einen sehr großen Stützpunkt der vierten Brigade, an dem sich auch die Agenten aufhalten, die unter keinen Umständen gesehen werden dürfen. Zu dieser Gruppe würde Tia Nam dann gehören“.
„Aber vergessen Sie nicht, 00Y“, wendet Chief ein, „dass Ihr Auftrag ein anderer ist. Ich zeige ihnen jetzt die Zielpersonen“. Mit diesen Worten öffnet Chief eine Mappe mit Bildern und Material über drei chinesische Physiker, die Brand ausschalten soll. Der Agent blättert die Mappe durch und legt sie dann vor sich auf den Schreibtisch.
„Liquidieren“, fragt Brand etwas ungläubig, „nicht entführen“?
„Liquidieren“, bestätigt Chief.
„Aber warum“, fragt der Agent, „sie gehen uns dann als Quellen verloren“.
„Brand“, antwortet der Leiter des Mi6 in schärferem Ton, „wir wollen dieses chinesische Programm, das Orbit zu übernehmen, nicht haben. Wir wollen es sabotieren! Diese drei Physiker sind die Schlüsselfiguren für die Weiterentwicklung der chinesischen Weltraumwaffen. Das sind Ausnahmewissenschaftler, die man als Genies bezeichnen kann. Ohne sie werden die Chinesen um mindestens zehn Jahre zurückgeworfen“.
„Sicher“, fragt Brand.
Chief baut sich vor seinem Agenten auf. „Das habe ich mir nicht ausgedacht. Es handelt sich um die übereinstimmende Meinung von Nasa, NSA, CIA, GCQH und unserem bescheidenen Dienst. Das sind die Schlüsselfiguren, die aus dem Spiel genommen werden müssen, wenn wir nicht verlieren wollen“!
„Wir machen also wieder die Drecksarbeit“, entfährt es Brand, „genauer gesagt, soll ich diesen Drecksjob übernehmen“.
Chief senkt leicht seinen unbehaarten Kopf und hebt ihn wieder. Dann bekommt sein Gesicht einen fast feierlichen Ausdruck.
„Für England, 00Y, für England und die freie Welt“.
Brand grinst. Es ist der erste Auftrag in seiner gesamten Laufbahn, in der er explizit und ausschließlich als Killer angeheuert wird. Alle Auftrage, alle Missionen waren bisher mit Informationsgewinnung verbunden. Menschen hat er nur getötet, wenn sie wirklich gefährlich waren. Jetzt soll er gleich drei hochrangige Wissenschaftler töten, nur um ein Waffenprogramm zu verzögern. Das ist also das Niveau des Mi6 im Internetzeitalter, in dem Informationen vor allem digital abgesogen werden und zwar von GCQH und nicht vom Mi6. Der Mi6 verkommt dadurch zunehmend zu einer Killer-Agentur. Brand schüttelt den Kopf.
„Ich muss es noch überlegen“, gibt er zur Antwort, „darf ich die Mappe mitnehmen“?
„Strengste Geheimhaltung“, betont Chief und nickt.
Brand legt die Mappe in seine Aktentasche und verabschiedet sich. „In drei Tagen hören Sie von mir“.
„In drei Tagen“, antwortet Chief, „kommt der Verteidigungsminister. Dann müssen Sie sich entschieden haben, 00Y“!
Kapitel 7
Grigori ist in Schwierigkeiten. Brand bekommt eine Nachricht auf sein Blackberry, die lakonisch klingt.
„Brauche Hilfe! Grigori“.
Seinen Freund hatte er zuletzt vor einem Jahr, während seiner Ermittlungen zum chinesischen Virus gesehen und er war ihm sehr hilfreich gewesen.
Seit einem halben Tag versucht der Agent Grigori in Almaty zu erreichen. Aber weder das Handy noch die spezielle Adresse im Darknet bringen einen Kontakt zustande. Als ob das Funknetz und das Internet gleichzeitig ausgefallen wären. Es gibt keine Bestätigung, dass Grigori seine Antwort erhält. Brand ruft einen Kontaktmann in Astana, der kasachischen Hauptstadt, an, fragt nach neueren Entwicklungen, die Grigoris Notruf erklären könnten. Aber es gibt nichts Neues. Die Lage in Kasachstan ist ruhig.
Marc Brand bleibt dennoch beunruhigt. Genaugenommen erreicht der Agent niemanden aus Grigoris Familie, weder seine Frau, noch die Kinder, nicht einmal den Gärtner!
Brand verlässt seine Pensionszimmer und macht einen Spaziergang durch den herbstlichen Londoner Vorort. Es ist Nachmittag und die Unruhe treibt ihn immer weiter von der Pension fort. Er grübelt und wählt seinen Weg dort, wo er ungestört weitergehen kann. Irgendwann kommt er an eine Wiese neben der sich ein Gemeindezentrum der Methodisten befindet. Angebaut ist eine kleine Kapelle, deren Tür offen steht.
Ohne nachzudenken, geht er auf diese Kapelle zu und tritt in die Tür. Der kleine Raum riecht nach frischer Seife und leichten Parfums. Zwei Frauen sitzen in den Bänken und beten. Eine scheint jünger zu sein und wirkt verzweifelt. Sie hat ihre Stirn an die Lehne der vor ihr stehenden Bank gedrückt und die Schultern weit nach vorn gezogen. Ihre blonden Haare sind locker mit einem Gummi zusammengebunden, das weit nach unten gerutscht ist. Darüber breiten sich ihre Haare im bläulichen Licht der Kapelle auf ihrem Pullover aus. Ihre Jacke hat sie, ordentlich gefaltet, in ihren Schoss gelegt.
00Y kommt kurz die Idee, dass die junge Frau in dieser Methodisten-Kapelle für ihren Mann betet, der Alkoholiker ist. Dann verwirft er den Gedanken wieder. Woher soll er das wissen? Außerdem geht es ihn nichts an.
Dann kehren seine Gedanken zu Grigori zurück. Er weiß, dass sein Hilferuf ernst ist, sieht aber im Augenblick keinen Ansatzpunkt, ihm zu helfen. Vielleicht haben die Chinesen etwas damit zu tun. Brand fühlt sich verwirrt und verunsichert. Er weiß nicht, was er tun soll.
Dann beobachtet er sich dabei, wie er zu einer der Bänke geht, sich dort niederlässt und die Hände faltet. „Es könnten die Chinesen sein“, denkt er, während er auf seine gefalteten Hände sieht. Dann hört er seine eigene Stimme im Flüsterton und spürt, dass er dabei die Lippen bewegt. „Ich fliege nach Almaty“, flüstert seine Stimme, „ich werde Grigori suchen“.
In seinem Pensionszimmer prägt der Agent sich die Daten und Bilder des „Chinesischen Dossiers“ ein und integriert die Bilder seiner Zielpersonen in das Fotoalbum seines Blackberrys. Es wirkt jetzt so, als wären das Leute aus seinem Bekanntenkreis und das Album dürfte wohl kaum irgendwelche Fragen aufwerfen.
Dann bittet er Maggy um Erlaubnis, sie für eine Zeit zu verlassen. „Dienstreise“, merkt er an. Maggy lächelt und gibt ihrem Bewohner gute Ratschläge mit einer gewissen Hellsicht. „Wenn Sie wieder ins Russische müssen“, sagt sie, so unbeholfen und klug, wie nur sie reden kann, „nehmen Sie ein kleine Flasche Wodka mit, die mit klarem Wasser gefüllt ist. Wenn man sie zum Trinken auffordert, holen Sie die heraus und behaupten, dass Sie nur den eigenen Wodka trinken“.
Brand grinst und umarmt Maggy zum Abschied.
Auf dem Flug nach Almaty denkt der Agent über Maggy nach und fragt sich, warum es in jeder Agentengeschichte, die er kennt, so eine Figur gibt, wie sie. Eine fürsorgliche Person mit Herz und Willensstärke, die in einer gefährlichen, männlichen Welt fast deplatziert wirkt?
„Nun ja“, sagt er lakonisch für sich, „jeder Agent hat eine Mutter“. Dann betrachtet er das blaue Kleid der Stewardess, dessen Stoff elegant über ihre weiblichen Linien fließt. „Gott ist ein Genie“, fällt es ihm ein. Er nimmt einen kräftigen Schluck Kaffee und lehnt sich zurück.
In Almaty sucht er kein Hotel auf. Es reicht ihm schon, dass sein Name, wenn auch der Falsche, auf der Passagierliste steht. Er nimmt ein Taxi und lässt sich zum Bazar fahren. Auf der Fahrt fragt er den Fahrer, ob es in letzter Zeit Störungen beim Funknetz oder dem Internet gegeben habe? Der schüttelt den Kopf. Er wirkt nicht sehr gesprächig.
Auf dem Bazar sucht Brand gezielt nach einer Leiter. An einem Stand wird er fündig. Eine gefälschte VELO-Leiter, die sich bis auf drei Sprossen zusammenfahren lässt und eine Gesamthöhe von drei Metern schafft. Das dürfte für die hintere Mauer von Grigoris Anwesen reichen. In der einen Hand trägt der Agent die Leiter und mit der anderen zieht er seinen Trolley hinter sich her. Aber das fällt nicht auf, denn viele Leute haben fahrbare Einkaufstaschen, die sie hinter sich her ziehen.
Dieses Mal sucht der Agent gezielt nach einem Taxifahrer, der ihm sympathisch ist. Er findet einen älteren Mann mit verschlissenem Jackett und einem schwarzen Lada, der bereitwillig und schnell seine Sachen in den Kofferraum lädt.
Auf der Fahrt zu Grigoris Anwesen, das etwas außerhalb der Stadt liegt, stellt er dieselbe Frage nach Internet und Funknetz. Nach einer längeren Verzögerung nickt der Mann und antwortet, dass es offiziell keine Störungen gegeben habe, aber viele Menschen hätten stundenlang kein Internet und keine Mobilverbindung. An den Funkmasten würde seit ein paar Wochen ständig gearbeitet und es gehe das Gerücht, dass ein neues Überwachungssystem installiert würde und die Störungen daher rühren.
„Wer sollte das denn installieren“, fragt der Agent im naiven Tonfall.
„Der neue Präsident“, antwortet der Fahrer ohne Umschweife.
Brand lässt es dabei und dirigiert das Taxi zur Rückseite von Grigoris hektargroßem Grundstück. An der Mauer lässt er den Fahrer halten. Er gibt ihm fünfzig Dollar und verspricht weitere einhundert Dollar, wenn er auf ihn warte. Der Fahrer sagt es zu und reicht Brand die kleine Leiter, die der Agent sofort an die Mauer stellt. Er steigt über die Mauer und zieht die Leiter hinter sich her. Er faltet sie danach sorgfältig zusammen und legt sie in ein Gebüsch. Dann erkundet er das Grundstück.
Das Gras ist gewachsen und die Ränder des Golfplatzes, den sein Freund eigentlich täglich bespielt, sind ausgefranst. Vom Gärtner keine Spur. Um das Haus gehen zwei Leute vom Sicherheitsdienst und unterhalten sich angeregt, rauchen dabei. Brand schleicht sich mit der tief stehenden Sonne im Rücken heran und beobachtet die Fenster. Keine Regung hinter den Fensterscheiben. Kein Fenster ist geöffnet.
Er beschließt, das Haus über den Keller zu betreten, ein Weg den er schon einmal genommen hatte, als er unauffällig von Grigoris Anwesen verschwinden musste. Die Kellertür lässt sich mit einem kurzen Ruck öffnen und Brand kann sich in eines der Treppenhäuser schleichen. Das Haus scheint leer zu sein.
Keine Stimmen, keine Schritte, kein Radio und der Muff, der entsteht, wenn man ein altes Haus tagelang nicht gelüftet hat. Grigoris Haus ist verlassen.
In Ruhe, wenn auch vorsichtig, geht Brand in Grigoris Arbeitszimmer. Das Zimmer liegt im Chaos und wurde augenscheinlich durchsucht. Spuren eines Kampfes kann der Agent nicht erkennen. Der Raum ist allerdings nicht versiegelt, was gegen eine polizeiliche Maßnahme spricht.
Vor seinen Füßen liegt eine englischsprachige Ausgabe der Global Times, eine chinesische Zeitung in englischer Sprache. Darin ein Bild des englischen Verteidigungsministers mit der Unterschrift: „Gibt es einen militärischen Plan, Hongkong einzunehmen“?
Ziemlich absurd, denkt Brand und ihm fällt ein, dass er heute eigentlich einen Termin im Hauptquartier hätte, an dem der Verteidigungsminister teilnehmen will. Von seiner Reise hatte der Agent aber niemandem außer Maggy etwas gesagt. Der Mi6 tappt im Dunklen, was sich in den letzten Jahren immer als beste Lösung für den Agenten erwiesen hat. Der Dienst ist so löchrig wie ein Schweizer Käse und Brand traut dort niemandem.
Die Wertschätzung als Killer, die er dort erfährt, interessiert ihn nicht. Den Auftrag wird er nicht ausführen und dennoch wird er in die Gobi reisen, nachdem er sich um Grigoris Probleme gekümmert hat.
Der Agent wird seine eigene Mission verfolgen.
Die Global Times ist fünf Tage alt. Länger als fünf Tage dürfte Grigori also nicht weg sein. Aber wo ist er? Wo ist seine Familie?
Kapitel 8
Der Taxifahrer, er heißt Gennadi, ist zuverlässig. Als Brand wieder über die Mauer kommt und die kleine Leiter auf die andere Seite hebt, steht der Alte dort und nimmt sie entgegen. Er grinst ihn an. „Nun“, fragt er, „gefunden, was Sie suchen“?
Brand nickt und sagt: „Ich brauche sie heute noch etwas länger“.
Der alte Mann, der wohl schon über Siebzig sein dürfte, seinen Falten nach zu urteilen, nickt.
Der Agent kennt nur einen Bediensteten von Grigori näher, den Gärtner. Von ihm hat er sich damals den Wagen geliehen. Er hat seine Adresse. Dorthin dirigiert er den Fahrer.
Es geht in einen typischen Datschen-Bezirk, der eigentlich in der Sowjetzeit als Ort der Erholung gedacht war. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben sich dort viele Menschen angesiedelt, um von dem angebauten Gemüse zu leben, aber auch, weil die Kinder meist in der Stadtwohnung lebten und die Alten kein Geld für eine eigene Wohnung hatten.
So wurden aus den Kleingärten Wohnbezirke mit Läden, Werkstätten und Spielplätzen. Alles auf improvisierter Basis, aber recht geordnet.
Der Gärtner heißt Dimitri und ist ebenfalls im Rentenalter. Er wohnt mit seiner Frau in der Kasakstanskaya, eine der geraden, kleinen Straßen mitten in dem südlichen Datschengebiet von Almaty. Das Grundstück wird, wie üblich, zu allen Seiten durch eine Mauer begrenzt. Das kleine Haus liegt an der Straße. Dahinter schließt sich ein Schuppen an. Hinter dem Schuppen ein großer Gemüsegarten, den Olga, die Frau Dimitris akribisch bewirtschaftet.
Die beiden lassen es sich nicht nehmen, Brand und seinen Fahrer, Sascha, durch Haus und Garten zu führen und ihnen jede gepflanzte Reihe zu erklären. Irgendwann wird Sascha müde und verabschiedet sich. Brand lässt ihn ziehen, nimmt aber die angebotene Telefonnummer für weitere Fahrten. Als Gastgeschenk gibt der Agent dem Gärtner die kleine Velo Leiter, der sie hoch erfreut entgegen nimmt und den Agenten, der auch sein Gepäck aus dem Taxi lädt, umgehend bittet, bei ihnen zu wohnen und nicht in einem Hotel.
Brand nimmt gerne an. Er möchte so wenig Spuren hinterlassen, wie möglich.
Beim Abendessen sprechen die drei über Grigori und die Ereignisse, die dazu führten, dass Dimitri seinen Job verlor.
„Ich bin froh, mit einem Freund von Grigori zu sprechen“, sagt Dimitri, leicht gelockert durch ein zwei Gläser Wodka, „er hat hier nämlich keine Freunde mehr“.
Brand schaut ihn aufmerksam an und nimmt einen Schluck von seinem Wasser. „Grigori hat doch viele Freunde“, entgegnet der Agent.
Der Gärtner schüttelt den Kopf. „Nicht mehr“.
„Wie kommt das“, fragt Brand irritiert.
„Ich weiß nicht“, antwortet der, „es ist etwas vorgefallen und dann haben sie ihn abgeholt. Sein gesamtes Anwesen wurde beschlagnahmt. Frau und Kinder sind, soweit ich weiß, zu Verwandten nach Astana gezogen. Ich habe keine Adresse von ihnen. Mich hat man nachhause geschickt“.
„Wer“, fragt der Agent drängend.
„Der KGB“, antwortet der Gärtner, „oder KNB, wie er jetzt heißt. Ist ohnehin dasselbe“.
Die beiden schweigen. Olga schaut besorgt.
Grigori könnte im Gefängnis sitzen, was nicht das erste Mal wäre. Aber möglicherweise haben sie ihn auch in eines der Lager gebracht, die der KNB für politische Gefangene betreibt. Aber von dort hätte er keine Nachricht absetzen können. Er ist vermutlich noch in Almaty.
„Vielleicht haben sie ihn auch in die Psychiatrie gebracht“, meint Dimitri, „das hört man in letzter Zeit öfter. Ich kenne einen Krankenpfleger dort. Den könnte man fragen“.
Brand nickt. „Besser Sie fragen ihn“, meint er, „Sie haben einen Grund. Immerhin war Grigori ihr Arbeitgeber. Sie können sagen, dass er ihnen noch Gehalt schuldet“.
Dimitri ist einverstanden. „Der Krankenpfleger wohnt nur zwei Straßen von hier. Ich gehe morgen früh einmal vorbei“.
Die Praxis, politische Gefangene in die Psychiatrie einzuweisen, stammt aus Sowjetzeiten und sollte sicherstellen, dass Gegner tatsächlich verschwinden. Sie beinhaltete aber auch die Möglichkeit, Agenten umzudrehen und stellte eine Form der Folter da. Wenn Grigori einer solchen „Behandlung“ unterzogen wird, muss angenommen werden, dass Gefängnis und Straflager zu öffentliche Orte sind, um ihn unterzubringen, eine Ermordung aber auch nicht angebracht erscheint. Um vor einem Gericht zu erscheinen, weiß Grigori wohl eindeutig zu viel über den tiefen Staat des Geheimdienstes in Kasachstan und seine Verbindungen bis hinauf zum Präsidenten.
Am nächsten Morgen erwacht Brand in einem kleinen Zimmer, das zum Garten hin liegt. Die Wände sind bunt mit Stickereien und kleinen Teppichen behangen. Das Zimmer ist sehr sauber. Den Boden ziert ein Teppich aus Polyester, der klassische asiatische Muster aufweist. Der Agent hat gut geschlafen und mustert als erstes seinen Blackberry. Damit er nicht geortet werden kann, hat er das Gerät ausgeschaltet und stellt es nur kurz ein, um Empfang zu haben. Eine neue Nachricht leuchtet auf.
„Wo bleiben Sie, 00Y, der Verteidigungsminister war gestern hier“! Eine Nachricht von Chief. Der Agent schaltet das Gerät wieder aus und döst noch eine Weile vor sich hin.
Irgendwann hält er es vor Hunger nicht mehr aus und steht auf. Er zieht sich seine Jogginghose an und die Badelatschen. Dann geht er in die Küche, unrasiert. Dort ist niemand. Aber auf dem Tisch steht ein Teller mit Blinschiki, russische Pfannkuchen, die mit Hackfleisch und Käse gefüllt sind. Daneben eine Thermoskanne mit Kaffee. Brand ist glücklich und macht sich über sein Frühstück her.
Schließlich holt er sich eine Zigarette und geht vor die Tür. Er raucht und hält dabei eine Tasse mit Kaffee in der Hand, als Dimitri von einem Spaziergang zurückkommt.
Der Gärtner steckt sich auch eine Zigarette an und hat dabei ein triumphierendes Leuchten in den Augen. „Grigori“, sagt er, „scheint tatsächlich in der Psychiatrie zu sein“.
Brand nimmt einen Zug von seiner Zigarette und schaut Dimitri aufmerksam an. Der redet weiter.
„Der Pfleger hat es bestätigt. Er ist sich nicht sicher, aber eine hochrangige Persönlichkeit ist in den hinteren Trakt der Psychiatrie, in der Abish-Kekilbayuly-Straße, gebracht worden. Genau einen Tag, nachdem sie Grigori geholt haben. Direkt darunter befindet sich die Suchtstation, auf der er seinen Dienst tut. Sie wird von Professor Gorobtsov geführt, der eine Kapazität in diesem Bereich ist. Mein Bekannter hat den Eindruck, dass der Professor es nicht gern sieht, dass der obere Trakt vom KNB benutzt wird. Während der Visiten schaut er öfter an die Decke und verzieht dabei sein Gesicht. Richtige Abscheu sei darin zu erkennen.“
Brand hat Dimitri reden lassen und nur genickt.
„Die Frage ist, wie ich da rein komme“, meint der Agent nach einer längeren Pause.
„Gar nicht“, grinst Dimitri, „ es sei denn Sie leiden unter Trunksucht und lassen sich behandeln“!
Kapitel 9
Brand hasst den Alkohol, oder besser das, was der Alkohol aus ihm macht. Nachdem er ein weiteres Glas Wodka geleert hat, winkt er ab, als Dimitri ihm nachfüllen will.
„Es reicht“, meint der Agent zum Gärtner, „ich muss ohnehin sechs Tage meinen Alkoholspiegel halten, um einen körperlichen Entzug zu bekommen, wenn ich am siebenten Tag nicht trinke“.
Dimitri zuckt mit den Schultern. Es ist ihm zu kompliziert.
„Warum betrinken Sie sich nicht einfach und lassen sich in die Psychiatrie bringen“?
„Ich brauche mehr Zeit“, antwortet der Agent, „eine Nacht Ausnüchterung und am nächsten Tag entlassen sie mich wieder. Das reicht nicht, um an Grigori ranzukommen“.
Dimitri nimmt sich selbst noch ein Gläschen und schiebt sich ein Scheibe geräucherten Speck zwischen die Zähne. Dann beißt er ab.
„Am Samstag werde ich mich richtig betrinken“, antwortet der Agent nüchtern, „wenn Ihr mich dann in die Klinik bringt, dürften Sonntagmittag die ersten Entzugssymptome kommen, Schwitzen und leichtes Zittern. Sie werden mir etwas zur Beruhigung geben. Am Abend werde ich noch einmal um ein Medikament bitten. Dann schlafe ich. Wenn die Nachtwache ihren zweiten Rundgang gemacht hat, so gegen zwei Uhr nachts, schleiche ich mich hinauf zu Grigori“.
„Man wird Ihnen Ihre Uhr abnehmen“, wendet der Gärtner ein, „Sie werden verschlafen“.
Brand schüttelt den Kopf. Dann grinst er Grigori an. „Vor etwa zwanzig Jahren habe ich das letzte Mal verschlafen. Es ist sehr unwahrscheinlich“.
Marc Brand ist darauf trainiert, sich auch dann zu kontrollieren, wenn er mehrere Promille im Blut hat. Diese Fähigkeit hat er sich während des „Kalten Krieges“ antrainiert, als er mit russischen Agenten gearbeitet hat. Ohne Alkohol wäre er mit ihnen nicht in einen näheren Kontakt gekommen. Später hat er das Trinken, als Gewohnheit, beibehalten. Irgendwann wurde ihm klar, dass er abhängig war. In seinem Dienst gibt es viele Alkoholiker, die sich mit dieser Sucht vor allem gegen die Einsamkeit betäuben. Bei Brand war es auch so. Nach dem Attentat in Armenien, bei dem er unvorsichtig war und sich fünf Kugeln gefangen hatte, beschloss er aufzuhören. Dem Agenten war klar, dass er, unter Alkoholeinfluss, gravierende Fehler gemacht hatte. Nur das Aufhören wurde sehr schwierig und es gab zahlreiche Rückfälle.
Genaugenommen hat er auch jetzt ein Rückfall. Es ist ihm nicht recht, aber er sieht keine andere Möglichkeit, an seinen Freund heranzukommen. Er will nicht mehr darüber nachdenken.
Dimitris Bekannter hat mehrere Fluchtpläne der Klinik fotografiert, auf denen der Grundriss zu erkennen ist. Brand schaut sich vor allem die Fluchtmöglichkeiten an. Besonders der Wäscheschacht ist interessant. Er verläuft über die drei Etagen der Klinik senkrecht nach unten. Bevor er im Keller endet, macht er eine sanfte Kurve in die Horizontale. So zumindest hat es der Pfleger beschrieben. Die Wäsche kommt nicht durch ein Fallrohr im Keller an, sondern eher auf einer Rutsche, die horizontal endet. Das könnte die beste Chance für Brand und Grigori sein.
Während sich in der oberen Etage Wachpersonal befindet, das vermutlich bewaffnet ist, dürfte der Keller nur von Zeit zu Zeit durch das Klinikpersonal betreten werden. Immer dann, wenn die Wäsche abtransportiert wird. Das ist einmal am Tag, wie der Pfleger wusste.
Nachts gibt es gute Chancen, durch den Keller, unauffällig zu verschwinden.
Drei Tage später am Samstag ist es soweit. Brand hat schon am Morgen mit dem Trinken angefangen und isst reichlich Speck, damit der Wodka seinen Magen nicht zu sehr angreift. Mit Grigori wird er zu einem verlassenen Haus am nördlichen Stadtrand fahren. Dimitri wird die beiden in der Nacht dorthin bringen. Die Weiterfahrt wird dann mit einer „Buchanka“, einem geländegängigen Kleinbus angegangen. Ziel ist der Grenzübergang nach Kirgistan bei Karkara. Die Fahrt wird etwa vier Stunden dauern. Die Gefahr entdeckt zu werden, ist nicht unerheblich. Denn spätestens drei Stunden nach seiner Befreiung wird man nach Grigori suchen.
Fünf Stunden später liegt Brand auf einer Trage in der Notaufnahme der Psychiatrischen Klinik. Eine Ärztin begutachtet ihn kurz und fragt nach seinem Namen. „Muller“, antwortet Brand unwillig. „Amerikaner“, fragt sie. „Engländer“, antwortet Brand. „Sie müssen hier bezahlen“, sagt die etwas dickliche Frau im Arztkittel. Brand nickt. Dann wird der Agent auf die Alkoholstation gebracht. Brand achtet darauf, dass seine Schuhe bei ihm bleiben. Er stellt sie unter das Bett, so dass sie möglichst von niemandem gesehen werden. Es handelt sich um Trainingsschuhe mit einer speziellen Gummibeschichtung für Kletterer. Brand plant, den Wäscheschacht auch als Zugang zur darüber liegenden Station zu nutzen.
Den Sonntagmorgen begrüßt der Agent in einem leeren Krankenzimmer mit einem dicken Brummschädel. Er kennt das Gefühl nach Trinkexzessen. Müde schleppt er sich zum Waschbecken, das direkt im Raum angebracht ist und holt eine Tablette Aspirin aus seiner Hosentasche. Er schluckt sie und trinkt dann reichlich Wasser nach.
Dann legt er sich wieder in sein Metallbett und horcht auf Geräusche. Über ihm ist es still. Die Decke ist hoch und die Fenster lassen viel Licht in den Raum. Ein Pfleger betritt den Raum, um nach ihm zu schauen. Der Agent ist allein im Zimmer, was wohl mit seinem Ausländerstatus zusammenhängt und mit der Tatsache, dass man ihm viel Geld abgenommen hat.
„Wie war die Nacht“, fragt der Pfleger.
Brand zuckt die Schultern. „Ein Hotel wäre besser gewesen“.
„Frühstück“, fragt der Pfleger.
Brand nickt. Er fingert einen letzten Geldschein aus seiner Hosentasche, die über einem alten Stuhl hängt und gibt ihn dem jungen Mann. Der lächelt und zieht zufrieden ab.
Das Frühstück ist passabel.
Gegen Mittag haben sich noch keine Entzugserscheinungen eingestellt und der Agent beschließt, sich die Station anzuschauen. Er zieht sich seine Hose an und geht Barfuß auf den Flur, der sehr lang und sehr leer wirkt.
Das Gebäude ist schön gebaut. Auch der Flur wird durch mehrere hohe Fenster beleuchtet, deren Zustand allerdings jämmerlich ist. Am Ende des Ganges sieht Brand mehrere Wäschesäcke, die vor einer Wäscheklappe liegen. Einen dieser Wäschesäcke lässt der Agent in den Schacht fallen und horcht auf den Aufprall, der weich und kaum vernehmbar ist. Ein gutes Zeichen.
Am Nachmittag verspürt Brand ein leichtes Zittern und Schwitzen, das den Alkoholentzug ankündigt. Er bittet den Pfleger um ein Beruhigungsmittel und bekommt ein leichtes Barbiturat, wie es in den russischen Republiken heute noch üblich ist. Nach der Einnahme wird er ruhiger. Gegen achtzehn Uhr, nach dem Abendbrot, bekommt der Agent noch eine weitere Tablette und schläft ein.
Wie geplant erwacht Brand gegen zwei Uhr nachts. Er schaut auf die Uhr und lächelt leise vor sich hin. „Ich wusste doch, dass ich nicht verschlafe“, murmelt er, während er seine Hose und ein T-Shirt anzieht. Dann holt er seine Schuhe unter dem Bett hervor und streift sie an. Es sind „Mocs“, die er mehrmals bei Klettertouren eingesetzt hatte. Sie sind extrem flexibel, bieten aber auch genug Halt. Es handelt sich um eine Gummimischung, deren Sohle an Wänden geradezu klebt. Derart ausgerüstet schleicht er sich zur Wäscheklappe und steigt in den Schacht.
Wie erwartet kann er sich gut an den Wänden des Schachtes halten und über kleine Vorsprünge nach oben steigen. Dort öffnet er vorsichtig die Klappe und mustert den Flur. Er sieht keine Wachen.
Der Agent trägt ein weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt, das auf den ersten Blick wie ein kurzer Kasack aussieht, den hier auch die Pfleger tragen. Schwestern gibt es kaum, weshalb der Anblick eines Mannes in der Tür zum Krankenzimmer nicht ungewöhnlich ist. Brand öffnet nacheinander die Zimmertüren, findet die meisten Krankenzimmer leer vor. Bei der fünften Tür wird er fündig. In der Mitte des Raumes steht ein Fixierungsbett, in dem Grigori liegt.
Während sein Freund noch schläft, löst Brand ihm die Fesseln und flüstert dabei leise. „Grigori, Grigori, ich bin es, Marc“. Er scheint schwere Medikamente zu bekommen. Brand bekommt ihn kaum wach. Nachdem er ihn an einer sehr schmerzempfindlichen Stelle unterhalb des Schlüsselbeins kneift und nicht loslässt, wacht Grigori auf und beginnt dabei um Hilfe zu rufen. Der Agent muss seinem Freund den Mund zu halten.
Die ganze Prozedur dauert mindestens zehn Minuten. Dann ist Grigori wach und erkennt seinen Retter.
Innerhalb weniger Augenblicke ist Grigori wie ausgewechselt. Er richtet sich im Bett auf und macht Anstalten aufzustehen. Brand unterstützt ihn. Sein Freund taumelt zwar, aber er ist in der Lage, sich eine Trainingshose anzuziehen, die Im Schrank liegt. Schließlich wird Grigoris Blick fest und sein Körper spannt sich.
„Brand, meine Freund“, flüstert er, „damit habe ich jetzt nicht gerechnet“.
Der Agent grinst. „Wir müssen, Grigori“.
Die beiden schleichen zum Wäscheschacht und Grigori muss zuerst hineinsteigen. Brand hält den dicklichen Mann unter den Achseln fest und steigt mit ihm ein Stockwerk tiefer. Dort verliert Grigori den Halt und rutscht die letzten Meter bis zum Ausgang des Schachtes in den Keller. Er landet sanft zwischen diversen Wäschesäcken, dicht gefolgt von Marc Brand.
„Das hätte geklappt“, lächelt Brand seinen Freund an und klopft ihm auf die Schulter. „Der Rest ist einfach“.
Brand zieht Grigori mit sich und öffnet die Kellertür. Bis zur Auffahrt der Klinik sind es keine fünfzig Meter. Die beiden laufen zur Straße. Dort steht Dimitri mit seinem Lada und nimmt sie auf. In schneller Fahrt geht es durch die Stadt.
Dimitri dreht sich nach ein paar Minuten zu den beiden um und fragt, ob es schwierig gewesen sei.
Grigori ist noch etwas benommen, aber er grinst über beide Ohren.
„Ein Kinderspiel“, sagt er begeistert und schaut Marc an. Dann wird sein Gesicht ernst. „Zumindest nachdem Du mir die Fesseln abgenommen hast“.
„Wohin fahren wir“, fragt Grigori später.
„Nach Kirgistan“, antwortet Brand.
Kapitel 10
Die Buchanka ist ein sehr geselliges Fahrzeug, das in Russland oft zum Reisen eingesetzt wird. Der kleine Bus kann mit mindestens acht Personen besetzt werden und das ist auch die Dichte, die man in Sibirien gern hat, wenn es durch die eiskalte Landschaft geht.
In Kasachstan ist allerdings Sommer und es ist sehr heiß. Der Montag kündigt dies bereits am frühen Morgen an, die Luft flirrt über der asphaltierten Straße. Die Buchanka, welche Brand und Grigori benutzen, ist allerdings ebenso voll besetzt, wie die beschriebene Buchanka im sibirischen Winter. Ein taktisches Manöver.
Acht Männer auf dem Weg nach Kirgistan. Brands Taxi-Chaufeur, Gennadi, hat es organisiert. Die Fahrt stand sowieso an und wäre mit seinem Taxi nicht möglich gewesen. Also hat man die Buchanka zum Taxi gemacht und Gennadi hat den Kirgisen erzählt, dass zwei Russen sie mitnehmen würden, kostenlos.
Eine bessere Tarnung, als diese Gesellschaft von Bauarbeitern, die in ihre Heimat wollen, konnte es nicht geben. Der voll besetzte Bus rollt munter über die wechselhafte Piste, auf der einmal Höchstgeschwindigkeit gefahren wird und dann, nach einer Vollbremsung, in Schrittgeschwindigkeit über Spalten hinweg, die noch aus dem letzten Winter stammen.
Einer der Männer beginnt zu singen, nachdem er einen kräftigen Schluck Wodka genommen hat, der schon seit einer halben Stunde herumgereicht wird. Seine Frau heißt Anastasija und er stimmt an: „Ay Nastasija, oh Nastasija..“, ein zweiter, jüngerer Mann besingt seine Frau in einem kirgisischen Liebeslied, das er mit allerlei gesanglichen Schnörkeln vorträgt. Schließlich ist Grigori an der Reihe, seine Frau zu besingen. Ihm fällt kein Lied mit dem passenden Frauennamen ein und schließlich stimmt er „Dorogoj Dlinnoju“ an. Ein Lied, das am besten übersetzt „Auf der langen Straße“ heißt. Es gibt auch eine englischsprachige Version davon: „Those were the days“. Alle begeistern sich für Grigoris Lied und als Brand an der Reihe ist, singt er einfach die englische Version davon und die Melodie bleibt den Männern erhalten.
Zwei dreimal werden sie von Polizeifahrzeugen überholt. Brand ist aufmerksam, aber nicht beunruhigt. Grigori singt und niemand ist nervös.
Eine ganze Weile bevor sie den Grenzübergang erreichen, fahren sie auf einer Schotterpiste, die besser ist, als die asphaltierte Straße im kasachischen Kernland. Sie führt hinauf zu einem Ausläufer des Grenzgebirges zwischen Kasachstan und Kirgistan. Der Gebirgszug verläuft in westöstlicher Richtung und fällt auf kirgisischer Seite zu einem riesigen Gebirgssee ab, der annähernd zweihundert Kilometer lang ist und ebenfalls in westöstlicher Richtung verläuft. Er heißt „Yssykköl“.
Brand plant, die Buchanka kurz vor dem beschrankten und stark kontrollierten Grenzübergang zu verlassen und mit einem „Kleinstmotorrad“, das im Heck des Busses liegt, einen Weg einzuschlagen, der parallel zur Grenze verläuft. Etwa zehn Kilometer weiter will er dann mit Grigori die grüne Grenze nach Kirgistan passieren.
Grigori ist nicht sehr begeistert, eine Stunde auf dem Rücksitz dieses chinesischen Minimotorrads zu verbringen, stimmt aber zu, als die beiden die kleine Sky aus dem Kofferraum hieven. Sie springt auf einen Schlag an und man verabschiedet sich herzlich von der Reisegruppe, die bereits so stark angetrunken ist, dass niemandem das seltsame Ende der Fahrt auffällt. Gennadi fährt einfach weiter mit den Worten. „Die beiden wollten noch einen Ausflug in die Berge machen“. Man witzelt darüber und denkt sich nichts dabei.
Die kleine Maschine ist bequemer, als gedacht und brummt fröhlich den schwachen Anstieg hinauf. Erst als sie nach einigen Kilometern über die Kuppe müssen, um nach Kirgistan zu gelangen, schwächelt das Fahrzeug. Einen Teil des Weges müssen die beiden schieben, aber auf der Kuppe ist die Mühsal vergessen. Brand und Grigori klopfen sich auf die Schulter, während sie, auf kirgisischer Seite, in der Ferne den großen Bergsee erblicken. „Endlich frei“, ruft Grigori, während er die Aussicht genießt. Dann dreht er sich zu Brand um und fragt: „Aber was machen wir nun“?
„Wir fahren nach Bischkek und nehmen uns ein Hotelzimmer“, antwortet Brand seinem Freund. „Ich glaube, wir brauchen ein bisschen Erholung“!
Grigori grinst, besteht aber auf einen Wechsel des Fahrzeuges.
Über die A363 sind es sechs Stunden Autofahrt in die kirgisische Hauptstadt. Nur das Auto haben die beiden noch nicht. Die Sky, die in Wirklichkeit der Nachbau einer Honda Dax aus den siebziger Jahren ist, bringt sie bis zur Hauptstraße. Dort hält ein kleiner LKW an, auf den sie das Motorrad heben können und nimmt sie bis Oibulak mit. Auf dem Dorfplatz sprechen sie den Fahrer eines Lastzuges an, der Anatoli heißt und über zwei Kojen in seinem Führerhaus verfügt. Anatoli führt einen gemischten Transport in die Hauptstadt durch. Beginnend in einem Außenbezirk von Bischkek muss er ein Dutzend Auftraggeber anfahren, bis er seine Ladung los ist. Sie reicht von Türen und Fenstern für einen Neubau bis zu einem PKW, der als letztes auf der Ladefläche steht. Das kleine Motorrad passt auch noch hinein.
Entlang des Sees führt die Straße wie eine Küstenstraße am Mittelmeer von Ausblick zu Ausblick. Grigori sitzt auf dem Beifahrersitz neben Anatoli und Brand liegt in einer der Kojen. Obwohl sich Grigroi in einer gehobenen Stimmung befindet, die von der Befreiung aus der Psychiatrie und dem Wodka in der Buchanka herrührt, spricht er mit Brand über seine Probleme in Kasachstan. Die beiden reden in Englisch und geben für Anatoli zwischendurch ein paar russische Witze zum Besten, damit er sich nicht ausgeschlossen fühlt.
„Weißt Du Mark,“ sagt Grigori irgendwann, „ich sollte meinen Anteil an „Kazatomprom“ an einen chinesischen Geschäftsmann verkaufen und bekam diese Anweisung allen Ernstes vom KNB. Ich bin kein besonderer Patriot. Aber an die Chinesen verkaufe ich nicht“!
Brand nickt und versteht. „Sie haben Dich mit Korruptionsvorwürfen unter Druck gesetzt“?
„Das haben sie“, bestätigt Grigori, „aber was schlimmer ist, auch wegen Steuerhinterziehung. Ein Richter in Nur-Sultan hat mein gesamtes Vermögen beschlagnahmt. Natürlich auch meine Bergbauanteile im Urangeschäft. Kazatomprom wird, unter der Hand, chinesisch. Am Ende haben Sie mich in die Psychiatrie gebracht, damit ich aufhöre, mich rechtlich und mit meinen Freunden zur Wehr zu setzen. Sogar mein Haus haben sie mir genommen“.
„Sieht fast so aus“, als würden die Chinesen die kasachische Republik übernehmen wollen“, meint der Agent.
Grigori nickt.
Während sie an dem hoch gelegenen Binnenmeer vorbeifahren, stauen sich die Wolken an den rechterhand gelegenen Bergen. Es beginnt zu regnen.
Irgendwann sagt Grigori, dem der Regen aufs Gemüt schlägt, „Das schlimmste ist das Gefühl, seine Heimat zu verlieren. Man fühlt sich, als wäre man nichts und niemand“.
„Ich kenne das“, antwortet Brand, „man ist in der eigenen Heimat fremd und überall woanders auch“.
Sie schweigen eine Weile, bis Anatoli auf den Himmel über dem See zeigt, wo gerade die Sonne hervorkommt. Der Yssykköl glänzt für ein paar Minuten in seiner ganzen Pracht. Dann setzt der Regen wieder ein.
„Mir kommt es so vor“, sagt Grigori, „ als wäre ich in einer Welt aufgewacht, die von fremden Wesen besetzt wurde. Alle meine Freunde verhalten sich so, als lebten wir in einem besetzten Land. Nur, welche Besatzung, welcher Krieg? Ich verstehe es nicht“!
„Vielleicht“, antwortet Brand, „ist es der Generationswechsel. Auch mein Dienst ist plötzlich ein anderer. Er ist zum Dienstleister für die Geheimdienste geworden, die sich um die Internetüberwachung kümmern, für den GCHQ beispielsweise. Dort sitzt eine ganz andere Generation von Agenten. Menschen, denen Grenzen egal sind und die globale Interessen bedienen, ohne nachzudenken.“
„Fremde Menschen“, ergänzt Grigori, „die Welt der Nachrichtendienste ist zu einer fremden Welt geworden. Keiner kennt jemanden, alle denken global und wissen nicht, von welcher Welt sie reden“.
„Agentennetzwerke gehören der Vergangenheit an“, sagt Brand und gähnt. Die lange Fahrt und das Gespräch haben ihn müde gemacht. Er nickt kurz ein.
Die Straße ist nicht besonders breit und wird von Pappeln gesäumt, der Regen hat aufgehört. Die Straßendecke ist gut und es gibt kaum Schlaglöcher. Brand muss doch länger geschlafen haben, denn als er aufwacht, verkündet Anatoli, dass man schon in einer Stunde in Bischkek sein wird. Grigori quittiert das mit einem leisen Grunzen. Auch er ist auf seinem Sitz eingeschlafen.
Während der Agent an die Decke der Kabine schaut, kommen ihm unwillkürlich Erinnerungen an Tia Nam. Seltsamerweise sind das nicht mehr Bilder der lächelnd zugewandten Chinesin, die er geliebt hat. Es sind die kurzen Augenblicke in denen sie ihn prüfend und kühl ansah, es sind die Blicke einer fremden Person, die er nicht kennt. Blicke mit denen sein Feind ihn betrachtete.
Brand fühlt sich befremdet. „Ich habe eine eigentümliche Schwäche, Freund und Feind voneinander zu unterscheiden“, denkt der Agent und verwirft es gleich wieder.
„Vielleicht ist Tia Nam eine Doppelagentin“, sagt er vor sich hin, „ich suche nur nach Hinweisen dafür. Das ist normal“.
Grigori ist wieder wach und hat diese Äußerung seines Freundes mitbekommen.
„Denkst Du, dass Deine Freundin eine Doppelagentin ist“, fragt er ungläubig.
„Vielleicht“, antwortet Brand.
Grigori wischt es mit einer abwehrenden Geste weg. „Frauen sind immer Doppelagenten. Das doppelte Spiel liegt in ihrem Wesen“.
Brand grinst. „Wir werden sehen“, antwortet er.
Kapitel 11
Wenn man im Norden von Bischkek die „Autobahn“ verlässt und in Richtung Stadtzentrum fährt, bekommt man es mit Straßen zu tun, die scheinbar ins Nirgendwo führen. Sie sind schmal, in schlechtem Zustand und scheinen durch eine verworrene Welt von Datschengrundstücken zu führen, die mehr oder weniger aus der Sowjetzeit stammen.
Anatoli lenkt seinen Lastzug in Richtung eines der wenigen Grundstücke, auf denen gebaut wird. Dort soll er Türen und Fenster anliefern. Beim Rangieren gibt es ständige Probleme mit herumstehenden PKWs und Anatoli rauft sich die Haare, gibt eine Reihe von russischen Flüchen zum Besten, bis der lange LKW einigermaßen richtig steht.
Brand und Grigori sind zwar noch müde von der Fahrt, aber sie beschließen, Anatoli beim Entladen zu helfen und danach mit ihrer Sky auf eigene Faust ins Zentrum von Bischkek vorzudringen.
Anatoli hat eine Laderampe und einen kleinen Gabelstapler, den sie teilweise zu Dritt ziehen müssen, damit er seine Paletten bis zur Grundstücksgrenze bekommt. Die Arbeit ist alles andere, als leicht. Am Ende geben die Bauherren noch eine Runde Kaffee mit Wodka aus, was die Stimmung dann doch etwas hebt. Auch Brand ist dabei. Seinen Alkoholentzug will er in einem Hotel durchstehen. Derzeit ist er noch guter Stimmung.
Anatoli ist sehr erleichtert, den größten Teil seiner Fracht los zu sein und verabschiedet die Agenten mit herzlichem Schulterklopfen. Ihm ist nicht entgangen, dass mit den beiden etwas nicht stimmt und so sagt er fürsorglich zum Abschied: „Lasst Euch bloß nicht erwischen“!
Brand und Grigori quittieren das mit einem Lächeln. Dann lassen sie sich auf ihrem Minimotorrad nieder und brausen davon.
Sie suchen nach einem Hotel mit mindestens vier Sternen und Swimming-Pool. Darunter machen Sie es nicht, was fest vereinbart wurde. Das Garden-Hotel im südlichen Zentrum ist ein ruhiges und kleines Hotel mit eigenem SPA-Bereich, Swimming-Pool und einer Dachterrasse, die einen wunderbaren Ausblick über die Stadt bietet. Auf der anderen Seite ist es klein genug, um ohne Gepäck und mit einem Minimotorrad auf dem Parkplatz einzuchecken. Brand bezahlt in Bar. Zweihundert Dollar für vier Nächte. Das sollte reichen, um wieder in Form zu kommen. Die Strapazen der Flucht sind für beide deutlich spürbar.
In ihrem Zimmer liegen sie auf dem Bett und grübeln über ihre Lage nach. Dabei wird der letzte Rest Wodka ausgetrunken, den sie noch in der Flasche haben. Fest steht bis jetzt nur, dass Grigori keinen Tropfen Alkohol anrühren will, wenn Brand in den Entzug geht, was sich spätestens Morgen deutlich auswirken wird.
Grigori dreht sich auf dem Bett zu seinem Freund und klopft ihm mit seinen fleischigen Händen auf die Wange. „Du hast mich aus der Psychiatrie befreit, Marc“, sagt er mit einem Grinsen im Gesicht, „dafür werde ich Dich vom „Suff“ befreien“!
„Danke“, antwortet Brand, „aber dabei wirst Du nicht viel Spaß haben“.
Grigori zieht die Augenbrauen hoch. „Mein Lieber“, sagt er, „ich riskiere dabei doch nicht mein Leben, wie Du gestern. Du kannst Dich auf mich verlassen. Notfalls hole ich Dir einen Arzt“.
„Das ist normalerweise nicht nötig“, sagt der Agent, der seinen Entzug gut kennt. „Lass uns lieber darüber nachdenken, wie es hinterher weitergeht“.
Grigori nimmt den letzten Schluck aus der Flasche und kratzt sich am unrasierten Hals, der ihn etwas juckt. „Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Ich werde ins Exil müssen, nach London vielleicht, wo alle Russen herumlaufen, die in ihren Ländern unerwünscht sind“.
Brand überlegt kurz und grinst dann seinerseits Grigori an. „Dann, mein Freund, wirst Du etwas für England tun müssen“.
„Was meinst Du“, fragt Grigori.
„Ich meine, dass Du den Mi6 unterstützen kannst. Hattest Du nicht Beziehungen in der Mongolei“?
„Oh ja, die hab ich“, antwortet der russische Kasache mit KGB-Vergangenheit, „die habe ich zur Genüge“.
„Kann ich brauchen“, antwortet Brand, „vom mongolischen Teil der Gobi aus will ich in China operieren. Ich brauche dort also einen zuverlässigen Stützpunkt“.
„Bekommst Du“, antwortet Grigori etwas großspurig. Brand weiß, dass sein Freund nicht übertreibt, wenn er Hilfe zusagt.
„Aber sag mir eines Marc“, meint Grigori nach einer kurzen Pause, „worum geht es Dir eigentlich in der chinesischen Wüste? Willst Du das Weltraumprogramm der Chinesen sabotieren oder willst Du nur Deine Freundin wiederfinden“?
Das hatte gesessen. Grigori hatte mitbekommen, wie verliebt Brand in Tia Nam war. Immerhin liebt er sie so sehr, dass ihm die Vorstellung von Tia Nam als Agentin der „vierten Abteilung“, die ihn von Anfang an, schwer getäuscht hat, besser gefällt, als die Befürchtung, sie könne tot sein.
„Willst Du eine ehrliche Antwort“, fragt Brand seinen Freund.
Grigori nickt.
„Es geht mir einzig und allein um Tia Nam. Der Job ist nur die Gelegenheit, sie zu suchen, viel mehr nicht“.
Grigori lacht. „Das wird England aber nicht gefallen“!
„England“, antwortet Brand in einem nüchternen Ton, der Grigori irritiert auf die Wodkaflasche schauen lässt, die beide zusammen geleert haben, „England schickt mich als Killer nach China. Was das angeht, habe ich den Auftrag längst umformuliert“.
„Wie“, fragt Grigori.
„Ohne Not bringe ich niemanden um. Ich werde allerdings einen wichtigen Ingenieur des Weltraumprogramms entführen und auspressen. Er heißt Sun Zehou und wird in drei Wochen bei einer Landung in der Baidan-Jaran-Wüste anwesend sein“.
Brand richtet sich kurz auf und schaut seinen Freund direkt an. „Die Sache wird auch für Dich delikat, Grigori. Ich habe die Absicht Sun in die Mongolei zu entführen und auf unserem Stützpunkt zu verhören“.
Grigori schaut an die Decke und überlegt, ob er protestieren soll. Dann sagt er etwas verträumt. „Leute ausquetschen. Wie in meiner Jugend. Ich bin dabei, Brand. Ich bin dabei“!
Gobi Kapitel 12
Der Entzug beginnt recht milde mit einem leichten Schwitzen, das Brand beim Aufwachen wahrnimmt. Vielleicht würde es ja diesmal angenehmer werden, als sonst. Er hat Grigori als Ablenkung, der noch neben ihm schnarcht.
Brand beschließt, schon Frühstück zu bestellen. Es ist acht Uhr morgens. Er will ein Programm, eine Tagesstruktur, bei der er sich optimal erholen kann. Der Agent nimmt den Hörer ab und bestellt ein ausgiebiges Frühstück mit Speck und Eiern, viel Kaffee und Saft. Dann geht er zum Fenster. Es liegt Richtung Süden und bietet einen Ausblick über die Stadt und die weite Ebene, die sich anschließt. Ein grenzenloses Gefühl.
Währenddessen redet Grigori im Schlaf. Erst nuschelt er, aber dann werden seine Sätze immer deutlicher. Er fragt nach einer Olga und bedenkt sie mit zärtlichen Worten. Brand lächelt. „Deine Frau heißt Aleksandra“, korrigiert der Agent seinen schlafenden Freund. Aber der fängt wieder von Olga an. Sein Gesicht nimmt dabei liebliche Züge an, die Brand im Wachzustand nie bei ihm beobachtet hat. Es wirkt fast grotesk, so als wäre dieser kräftige Russe mit dem bulligen Gesicht, im Traum zu einem süßen Mädchen mutiert. Brand muss bei diesem Anblick lachen. Dann klopft es an der Tür.
Stellen Sie alles auf den Tisch, bittet der Agent den Boy, der das reichhaltige Frühstück auf einem Catering-Wagen ins Zimmer fährt. Brand fingert eine Dollarnote aus seinem Jackett und der Junge bedankt sich. Dann gießt er sich eine Tasse Kaffee ein und beginnt zu frühstücken. Grigori schnarcht dazu.
Irgendwann wird Grigori von zwei lauten Schnarchern geweckt und schreckt im Bett auf. „Keine Sorge“, sagt Brand, „Du bist in Sicherheit. Du hast geschnarcht“. Dabei schiebt er sich ein Brötchen mit Rührei und Speck in den Mund und trinkt eine große Portion Kaffee hinterher.
„Ich habe geträumt“, sagt Grigori der sich nun im Bett aufgerichtet hat.
„Ich weiß“, antwortet Brand, „Du hast geredet“.
Der kräftige Russe wühlt sich aus dem Bett und geht ins Bad. Während das Duschwasser läuft, stellt Brand das Radio an und öffnet das Fenster. Er nimmt sich eine Zigarette und lehnt sich über die Fensterbank. Beim Rauchen verspürt er ein Freiheitsgefühl, fast so, als könnte er, nur mit Zigarette, frei durchatmen. „Die Sucht“, sagt er vor sich hin, „die Sucht gaukelt mir vor, dass ich alles erreichen kann, was ich will“. Trotzdem schmeckt ihm die Zigarette und er genießt sie in vollen Zügen.
Dann setzt er sich wieder an den Frühstückstich und macht sich ein Kaviarbrötchen. Währenddessen kommt Grigori im Morgenmantel aus der Dusche, greift sich ein paar Weintrauben und setzt sich damit aufs Bett.
„Wer ist Olga“, fragt Marc unvermittelt.
Sein Freund schaut ihn erstaunt an. „Habe ich davon geredet“, fragt er.
Brand nickt.
„Olga ist die Schwester meiner Frau“, sagt der Russe und wirkt dabei betreten.
Brand schaut Grigori an, so als erwarte er weitere Erklärungen, die Augenbrauen leicht nach oben gezogen.
„Was habe ich gesagt“, fragt Grigori.
„Nur Gutes“, antwortet sein Zimmergenosse und lächelt dabei, „sehr Gutes, möchte ich meinen“.
„Gib mir einen Kaffee“, sagt Grigori in einer gespielt wirkenden Gereiztheit.
Brand schenkt ihm eine Tasse ein und schiebt sie in seine Richtung. Grigori steht auf und trinkt einen kräftigen Schluck. Dann beschäftigt er sich wieder mit seinen Weintrauben.
„Olga“, sagt er, „ist die Schwester meiner Frau“.
Eine Weile schweigen die beiden.
„Du liebst sie“, fragt Brand dann, während er sich ein Stückchen Käse abschneidet.
Grigori nickt langsam aber wiederholt. „Ich habe mich während einer ihrer Besuche verliebt. Das war vor zehn Jahren“.
Der Agent schaut seinen Freund versonnen an. „Das klingt ziemlich hartnäckig“, kommentiert er kurz.
Der Russe nickt. „Ja, ich werde es nicht los. Ich träume von ihr“:
Brand nickt.
„Oft“, ergänzt Grigori.
„Wie ist sie“, fragt Brand interessiert, während er verschiedene Käsesorten auf dem Frühstückstisch ausprobiert.
Die russischen Augen auf dem Bett beginnen zu leuchten. „Sie ist wunderschön, bezaubernd und hat eine Stimme wie Rauch“.
Brand muss nur dasitzen, denn Grigori redet nun automatisch weiter. „Sie hat lange braune Haare, die sie meist offen trägt und blaue Augen mit denen sie etwas schielt. Sie ist etwas größer als Aleksandra und einige Jahre jünger. Sie lebt allein in Asthana und die beiden Schwestern telefonieren fast täglich miteinander. Sie gehört zu Aleksandra, aber leider nicht zu mir“.
„Was stört Dich daran“, fragt ihn der Engländer in etwas zu nüchternem Tonfall.
Grigoris Ton bekommt etwas Trotziges. „Ich begehre Olga, seit ich Aleksandra nicht mehr begehre“.
Damit ist eigentlich alles gesagt. Aber Brand möchte das Gespräch noch etwas fortführen. „Hast Du sie jemals gehabt“, fragt er.
Grigori schüttelt den Kopf. „Ich habe ihr einmal meine Bewunderung gestanden. Das war alles“.
„…und sie“, fragt Marc.
„…ist nicht interessiert“, antwortet der Russe nun in einem nüchternen Ton. Er schaut dabei auf die Minibar, in der er Alkohol vermutet und erinnert sich in diesem Augenblick, dass Abstinenz vereinbart ist. Also gießt er sich ein Glas kaltes Wasser ein und trinkt es mit einem Zug aus.
Marc Brand möchte seinem Freund etwas Tröstendes sagen und denkt kurz über dessen Situation nach. Er räuspert sich.
„Manchmal finden sich solche Beziehungen noch nach Jahren, gelegentlich sogar zu Dritt“.
Grigori starrt ins Leere. „Das habe ich auch schon gedacht. Im Grunde liebe ich nur eine Frau, welche eben aus zwei Schwestern besteht, die sich wie siamesische Zwillinge verhalten“.
„Kompliziert“, kommentiert der Agent.
„Nur kompliziert, wenn man die russischen Frauen nicht kennt“, antwortet Grigori, der sich mit seinem Thema besser auskennt, als Brand, „russische Frauen lieben ihre Kinder, ihre Tiere, Haus und Garten. Aber sie lieben ihre Männer nicht“.
Brand schaut Grigori erstaunt an.
„Ja, mein Freund, das ist die Tragik von uns Russen. Wir haben die schönsten Frauen der Welt. Wir sind stolz und lieben sie mit ganzer Seele. Aber sie lieben uns nicht“.
Grigori macht eine kurze Pause, in der er seinen Freund prüfend fixiert, so als wollte er wissen, ob seine Tragik wirklich von ihm wahrgenommen wird.
„Sie verlangen aber von uns, dass wir sie bedingungslos lieben. Das ist einfach zu viel. Darüber werden wir langsam verrückt. Aber so hat es die Natur eben eingerichtet“.
„Zumindest die Russische“, antwortet Brand etwas zu spontan.
Grigori ist beleidigt. „Ihr Engländer“, sagt er, „wisst nicht, wie das ist. Euch fehlen die schönen Frauen“.
Brand nickt. „Das ist wohl wahr. Habe aber von ähnlichen Verwirrungen auch in England gehört“.
Der Russe wirkt nun etwas zufriedener.
„Vielleicht hast Du Recht und wir leben irgendwann zu Dritt miteinander, weil die beiden Schwestern zusammenleben wollen. Aber lieben werden sie mich dann auch nicht. Weder Aleksandra noch die süße Olga“.
Grigori beginnt leicht zu zittern und Brand schaut ihn besorgt an.
„Sag mal, Grigori“, meint er dann, „hast Du etwa einen leichten Alkoholentzug“?
Grigori schaut an sich herunter, so als suchte er den Alkoholentzug auf seinem Morgenmantel. Dann schaut er Brand an.
„Nein“, sagt er, „ich habe nichts“.
Später begibt sich Brand in den SPA-Bereich des Hotels, während Grigori einen Nachrichtenkanal anstellt und zugleich sein Smartphone nach News absucht. „Komme nach, wenn ich fertig bin“, sagt er kurz und vertieft in die Suche nach News, die ihn selbst betreffen.
Der Wellness-Bereich ist schön angelegt und verfügt über zwei Swimming-Pools. In dem kleinen Pool turtelt gerade ein junges Pärchen, die vielleicht auf der Hochzeitsreise sind und recht verliebt wirken. Der große Pool ist leer.
Brand begibt sich ins Wasser und schwimmt einige Bahnen, wobei ihn das übliche Glücksgefühl überfällt, das er beim morgendlichen Schwimmen von sich kennt. Er denkt kurz an Tia Nam und die gemeinsamen Hotelaufenthalte. Er dreht sich auf den Rücken und schaut an die Decke, während das Wasser ihn trägt. „Sie lebt“, denkt er, „sie lebt ganz sicher“. Dann taucht er unter bis zum Boden des Pools, hält eine ganze Weile die Luft an. Als er nach einer Minute wieder nach oben schießt, sieht er Grigoris behaarten Körper, der sich vorsichtig ins Wasser schiebt.
Der Agent muss grinsen und schaut ein wenig zur Seite, um seinen Freund nicht zu kränken. Grigoris auftrieb im Wasser ist beträchtlich und er muss wenig tun, um sich an der Oberfläche zu halten.
„Nun“, fragt er den britischen Agenten, „wie machen wir weiter“?
Kapitel 13
Auf der Dachterrasse des Hotels lassen sich die beiden einen Softdrink geben und legen sich auf eine Sonnenliege. Der Himmel ist heute so blau, dass er graue Gefühle schon im Ansatz verhindert. Brand und Grigori fühlen sich optimistisch.
„Ich habe einen grenznahen Stützpunkt in der Mongolei gefunden“, meint Brand während er Grigori sein Blackberry vor die Nase hält.
„Wo ist das denn“, fragt der Russe halb entsetzt.
„Achtundsiebzig Kilometer von der chinesischen Grenze oder dreihundertfünfzig Kilometer vom Ostwind-Landeplatz in der Baidan-Jaran-Wüste“.
„Ach so“, mein Grigori mit leicht belegter Stimme, „ und da sollen wir hin“?
Der Agent nickt.
Das Hochzeitspärchen vom Pool kommt ebenfalls auf die Terrasse und sucht sich zwei Liegen. Sie hat lange krause Haare, die natürlich schwarz sind und seine Haare sind ebenso schwarz und setzen tief in der Stirn an, scheinbar direkt über seinen Augenbrauen. Die beiden dürften kaum älter als Zwanzig sein und wirken dafür sehr selbstsicher. Der neue Mittelstand von Kirgistan hat teilweise schon einen erheblichen Wohlstand erwirtschaftet. Aber es sind nicht viele, die sich so einen Hotelurlaub leisten können.
Brand entdeckt ein Hotel in Gurvantes, seinem favorisierten Stützpunkt. Es ist sehr primitiv und passt zu der kleinen Ortschaft in der Steppe. Die wenigen Zimmer sind Doppelzimmer von lediglich acht Quadratmetern Größe, in denen an jeder Wand je eine Pritsche steht. Als Bett kann man diese Schlafstätte wohl nicht bezeichnen.
Als Grigori die Fotos des Hotels anschaut, trübt seine Stimmung erkennbar ein und er versucht seinen Unmut zu beherrschen. Brand will ihn also in die mongolische Einöde verschleppen.
„Hör mal, mein Lieber“, sagt er, das sieht aus, wie ein Straflager. Willst Du mich nicht lieber in die Psychiatrie zurückbringen“?
Brand lacht. „Wenn Du willst“!
Grigori fasst sich wieder und wird ernst. „Was brauchst Du dort“, fragt er.
„Einen geländegängigen Kleinbus, ein Motorrad und ein Flugzeug. Außerdem zwei Guides, die sich in der Gobi auskennen. Einen Mongolen und einen Chinesen. Dann zwei sehr starke Sonnenbrillen, und ein leichtes Schutzzelt mit Aluminium-Beschichtung, einen Schlafsack und ein GPS-Gerät das in der chinesischen Armee benutzt wird“.
„Das hört sich machbar an“, meint Grigori, „aber wozu das Flugzeug“?
„Ein Kleinflugzeug“, korrigiert der Agent, „ultraleicht, für Erkundungsflüge. Lass eines aus Europa kommen“, ergänzt er, „ die haben einen Fallschirm, wenn die Tragflächen abmontieren“.
„Wie meinst Du das“, fragt Grigori.
„Die Thermik“, antwortet Brand, „ sie ist so stark, dass Dir aufsteigende Luftblasen die Flügel abreißen können“.
Grigori räuspert sich. „Aber die Chinesen werden Dich abschießen“.
Brand, der sich des Risikos von Erkundungsflügen bewusst ist, lächelt. „Eben deshalb auch der Fallschirm oder das Rettungssystem, genauer gesagt. Ob „Magnum“ oder „BRS“ ist mir egal, aber es muss funktionieren.“
„Marc“, wendet Grigori nun ehrlich besorgt ein, „warum ein Flugzeug, warum keine Drohne? Mit der kannst Du risikolos Aufklärungsflüge durchführen“.
Brand schweigt eine Weile, weil genau das die Überlegung war, die er anfangs hatte. Warum ein Risiko eingehen?
„Du weißt“, antwortet er dann bedächtig, „dass ich „Sun Zehou“, notfalls auch einen anderen führenden Wissenschaftler des chinesischen Weltraumprogrammes kidnappen will. Vielleicht bekomme ich sogar den obersten Chef, Ye Peijian. Jedenfalls wird es ein hochrangiges Treffen am Ostwindlandeplatz geben, wo es von diesen Leuten nur so wimmelt. Die Entführung wird chaotisch ablaufen und letztlich nur mit einem Flugzeug funktionieren. Ich muss mit meiner Beute nämlich ziemlich schnell verschwinden“.
Grigori nickt. „Verstehe, Du willst herausfinden, auf welcher Route die Chinesen dich vermutlich nicht orten können und das geht nur im Selbstexperiment“.
Brand nickt. „Ich werde einige Erkundungsflüge durchführen müssen. Vielleicht brauche ich sogar mehr als ein Flugzeug.
Der Agent tippt eine Weile auf seinem Blackberry herum und zeigt seinem Freund dann ein Foto von einem sehr leichten Flugzeug, dass man auch in der Wüste einsetzen kann.
Grigori grinst. „Ist das ein Oldtimer“, fragt er.
„Nein“, antwortet der Agent, „ das ist eine „Wild Thing“ mit einem australischen Jabiru-Motor. Ein Sechszylinder Boxermotor. Luftgekühlt. Einhundertzwanzig PS“.
„Wie schnell fliegt denn das Ding“, fragt Grigori.
„Hundertsechzig“, antwortet Brand.
„Zu langsam“, meint Grigori.
„Nicht wenn man zwischendrin mehrfach ohne Piste landen will“, antwortet der Agent, „die Landegeschwindigkeit liegt bei Fünfzig, wenn man es geschickt anstellt und die Nase schön weit hochzieht“.
„Du willst zwischenlanden“, fragt Grigori.
Brand nickt. „Wenn ich mein Paket habe, brauche ich nur zehn Minuten in der Luft zu sein und dann gehe ich auf eine Straße herunter, die schnurgerade nach Norden verläuft. Sie führt durch ein Flusstal, das vom chinesischen Radar nicht überwacht werden kann“.
„Verrückt“, meint Grigori.
„Schon“, antwortet Brand, „aber ich muss eben das tun, womit die Chinesen nicht rechnen. Sie werden in der Luft nach mir suchen. Außerdem fliege ich nachts. Mit einem VFR-Flugzeug habe ich da im Himmel schlechte Karten. Ich werde also im Bodeneffekt über der Straße fliegen“.
„Ah“, meint Grigori und lacht, „auf diesem Luftkissen“.
Brand nickt und grinst. Auch wenn sein Freund ihn auslacht. Er hat so etwas schon einmal gemacht und es hat gut funktioniert, über mehrere hundert Kilometer!
Grigori bekommt Lust auf das Abenteuer und leert noch ein Glas Eiswasser mit Zitrone und Oliven. „Ich werde Dir dieses Flugzeug als erstes besorgen, sagt er gut gelaunt. Wir können dann gleich mit dem Fliegen anfangen“!
Zwei Tage später hat Grigori Erfolg. Das Flugzeug soll bereits am Abend in Bischkek eintreffen. Fahrzeuge und Motorräder sind außerdem auf dem Weg nach Gurvantes, dem geplanten mongolischen Stützpunkt.
Die „Wild-Thing“ kommt mit angeklappten Flügeln in einem Lastzug aus Uzbekistan, wo sie seit Jahren in einem Hangar stand. Sie hat kaum Flugstunden und wurde von einem Arzt geflogen, der nur gelegentlich am Wochenende Zeit für sein Hobby hatte. Die beiden nehmen die Maschine vor einem Schuppen an der westlichen Ausfallstraße der Hauptstadt entgegen. Den Kontakt hat Grigori organisiert, der ein begnadeter Strippenzieher ist.
Hinter dem Schuppen und wenige Meter von der Straße entfernt beginnt bereits die Landschaft, die man sich als eine weite Ebene vorstellen muss, die vor allem für Viehzucht und Ackerbau genutzt wird. Aus der Sowjetzeit gibt es noch betonierte Fahrwege für die Landwirtschaft, teils im guten Zustand, die sich als Start- und Landebahnen für das kleine Flugzeug eignen.
Brand zögert nicht, das Flugzeug sofort in Betrieb zu nehmen und auch ohne offizielle Zulassung zu fliegen. Die Flügel werden auf einem Fahrweg direkt hinter dem Schuppen, in dem man das Flugzeug für einige Tage lagern und mechanisch vorbereiten wird, aufgeklappt und arretiert. Das Benzin kommt aus zwei Kanistern und wird eingefüllt. Grigori bewundert die schönen braunen Ledersitze im Cockpit und ist überrascht wie viel Platz die Wild-Thing hinter den Sitzen bietet.
„Da können wir auch die kleine Sky reinpacken“, meint Grigori, „dann haben wir auch ein Motorrad dabei“.
Brand nickt. „Die Zuladung ist allerdings nur zweihundert Kilogramm, einschließlich des Benzins“.
Grigori runzelt die Stirn. „Soll ich dann überhaupt einsteigen, wenn wir einen Probeflug machen“?
„Schon“, meint Brand lächelnd, „ zusammen kommen wir in etwa auf Zweihundert. Das Benzin befindet sich ja in den Tragflächen und spielt bei der Balance keine besondere Rolle. Tatsächlich könnten wir das Mini-Motorrad noch hinten reinlegen. Es würde den Flieger etwas „schwanzlastig“ trimmen, aber das lässt sich gut ausgleichen“.
„Dann machen wir jetzt einen Probeflug“, fragt Grigori.
„Ganz sicher“, antwortet Brand, der von dem kleinen, silberfarbenen Schulterdecker einigermaßen angetan ist.
Gobi Kapitel 14
Die kleine Ortschaft Karabalta, westlich von Bischkek, hat außer einem Supermarkt keinen Ortskern und ist wohl eher entlang eines Abbiegers entstanden. Von dort führt eine breite Straße schnurgerade nach Süden in die Berge, die Kirgistan in west-östlicher Richtung durchziehen, jedoch in nord-südlicher Richtung gefaltet sind. Wenn man die M41 als Start und Landebahn nutzt, kann man von dort direkt in die Täler des Gebirgszuges einfliegen und sich vor jedem Radar verstecken.
Brand und Grigori wollen das ausprobieren, wenn sie ihre Übungsflüge mit der Wild Thing durchführen. Das Starten und Landen auf der mäßig befahrenen Straße wird ins Training eingeschlossen. Dafür stehen die beiden am nächsten Tag früh auf und sind schon um vier Uhr morgens an ihrem improvisierten Flugzeug-Hangar.
Der Sommer nähert sich langsam dem Ende und der Wind kommt von Norden führt kühle Luft über die Ebene. Brand verriegelt die Tragflächen und führt einen Vor-Check durch. Dann startet er den Motor, der leise vor sich hin summt. Laut wird es erst, als bei dreitausend Umdrehungen die Propellergeräusche hinzukommen. Dann besteigen sie die kleine Maschine und rollen in Richtung eines betonierten Feldweges, der nach Süden verläuft und an dem es, auf fünfhundert Metern Länge keine Hochspannungsmasten und andere Hindernisse gibt.
Brand hatte in den letzten Tagen die Satellitenbilder der chinesischen Fluchtstraße auf der er mit dem Flugzeug nach Norden entkommen will, kontrolliert. Er konnte keine Hochspannungsmasten entdecken, die über die Straße verliefen und fand auch sonst keine Hindernisse. Hier auf der M41 gibt es jede Menge Hindernisse, denen er ausweichen muss. In der Regel, indem er das Flugzeug mit dem ausgeprägten Strömungsprofil schnell anhebt und wieder absenkt. Genau das üben Grigori und Brand jetzt mit voller Beladung.
Auch voll beladen fliegt die Wild Thing schon bei 60kmh und lässt sich ab Achtzig gut und zuverlässig von der Straße wegheben. Grigori bekommt bei jedem Ausweichmanöver einen starren Blick und kann sich nur schwer beherrschen, den Steuerknüppel, der sich genauso vor dem Copiloten-Sitz befindet, nicht nach hinten zu ziehen, um das Flugzeug noch kräftiger anzuheben. Aber Brand hat ihm das streng verboten.
„Wenn Du den Steuerknüppel zu stark ziehst, mein Lieber, bekommen wir einen Strömungsabriss und fallen runter“.
Grigori nickt und sieht dabei blass und gequält aus.
„Aber was“, merkt er an, „wenn Du das Flugzeug zu spät anhebst“?
„Ganz einfach“, antwortet der Agent, „wenn wir nicht mehr drüber kommen, müssen wir drunter durch“.
„Ach so“, meint Grigori, „ich hatte den nahen Tod in den letzten zehn Minuten schon mehrfach vor Augen. Aber wenn wir einfach unten durch können“, antwortet er ironisch, „dann ist ja alles OK“.
Am Horizont steigt der Gebirgszug auf und wird während der Annäherung mit dem kleinen Flugzeug immer höher. Im Osten ist die Sonne bereits aufgegangen und Brand fliegt konzentriert weiter.
Grigori betrachtet den Schatten des Flugzeuges auf der Straße, die kaum befahren ist. Bisher mussten sie nur einem LKW ausweichen, was problemlos möglich war, dem LKW-Fahrer aber so suspekt schien, dass er rechts ran fuhr und ausstieg. Er sah dabei gerade noch, wie der kleine silberne Flieger in einem Tal verschwand und überlegte, ob er jemanden benachrichtigen sollte, verwarf es dann aber. Vermutlich würde die Polizei eine Alkoholkontrolle bei ihm durchführen, was Ärger bedeuten könnte. Also beschloss er einfach weiter zu fahren und heute Abend seiner Frau davon zu erzählen.
Der Flug durch das Tal verläuft problemlos. Mehrfach hat Brand das Gas rausgenommen und die Wild Thing auf die Straße gesetzt, eine Weile ausrollen lassen, um sie dann wieder mit Vollgas in die Luft zu heben. Die Manöver klappten perfekt und die Geschwindigkeiten stimmten. Erst als die Straße stark ansteigt, wird es für Wild Thing schwierig. Brand muss das Flugzeug immer höher über die Straße heben und verliert dabei so viel Geschwindigkeit, dass er zuletzt entscheidet, den Flieger zu landen.
Die Wild Thing rollt auf den breiten Seitenstreifen der Straße und der Agent stellt sie dort quer zur Fahrtrichtung. Dann wendet er sich zu Grigori.
„Das war es“, sagt er, „bei dieser Steigung funktioniert der Schwebeflug nicht mehr. Ich werde mir das Geländeprofil in China genau anschauen müssen. Vermutlich reichen fünf Prozent Steigung schon aus, um zu scheitern. Mit dieser Methode kommt man keinen Berg hinauf“.
Die beiden steigen aus und schauen sich die Steigung der Straße an, die noch nicht einmal einen Pass hinaufführt. Der Anstieg wirkt harmlos, ist aber für das Flugzeug schon zu viel.
„Wenn wir den Flieger leichter machen, schaffen wir vielleicht zehn Prozent, mehr aber nicht“, meint der Agent.
„Wenn Du willst, nehme ich die Sky heraus und fahre hinter Dir her“, meint Grigori, der sich am Boden erkennbar wohler fühlt.
Brand schüttelt den Kopf.
„Ich werde ja auch während der Operation mit diesem Gewicht rechnen müssen. Ich muss das Problem irgendwie anders lösen“.
Am Abend im Hotelzimmer analysiert der Agent das Geländeprofil der chinesischen Straße. Sie führt schnurgerade entlang eines Flusstales, in der sich ein leicht mäandrierender Fluss schlängelt. Ein Hinweis auf ein geringes Gefälle. Der Vorteil ist, dass der Fluss in Richtung mongolischer Grenze fließt und somit auch als Fluchtweg benutzt werden könnte, wenn der Weg über die Straße nicht funktioniert.
„Es hat wenig Sinn, zu spekulieren“, sagt Brand laut vor sich hin, „ich werde den Weg ausprobieren“.
Grigori, der sich gerade mit einer veralteten Männerzeitschrift beschäftigt, die im Zimmer herumlag, richtet sich im Bett auf.
„Wir legen also los“, fragt er.
„Gleich morgen“, antwortet Brand.
Am Tag darauf wird die Wild-Thing mit angeklappten Flügeln auf einen LKW geschoben und verzurrt. Der Transport soll unauffällig in die Mongolei gehen und muss durch Kasachstan und Russland, wenn man den Weg über China vermeiden will. Daher wird das Flugzeug im LKW noch einmal gesondert abgedeckt und hinter einigen Paletten mit Gemüsekisten verborgen. Gemüse ist ein Importprodukt in der Mongolei und fällt am wenigsten auf. Im Notfall hat der Fahrer ein Bündel Geldscheine im Handschuhfach, um Zoll und Polizei zu bestechen. Das dürfte nicht allzu schwierig werden.
Grigori und Brand checken danach im Hotel aus, das ihnen einige schöne und entspannte Tage geschenkt hatte. Ein bisschen wehmütig denkt Grigori, dass er bestimmt mal wieder käme, vielleicht mit seiner Frau oder gar mit Olga und drückt dem Boy an der Tür einen Geldschein in die Hand. Der sagt dann auch, wie bestellt, „Kommen Sie bald wieder, Sir“!
Die beiden haben sich entschieden, den LKW-Transport zu begleiten. Zum einen, weil sie das für die unauffälligste Art zu Reisen halten, zum anderen, weil sie dem Fahrer nicht trauen. Die Fracht ist zu wertvoll, was einen Kirgisen durchaus in Versuchung führen kann. Ohne das Flugzeug aber sind sie aufgeschmissen. Also passen sie lieber auf.
Die Fahrerkabine des Lastzuges ist geräumig und Sascha, ihr Fahrer hat die ganze Zeit Kopfhörer auf, über die er mit Freunden telefoniert, Videos schaut und Musik hört. Brand und Grigori, die sich übereinander in die Pritschen gelegt haben, sind also ungestört und können sich in Ruhe unterhalten.
„Weißt Du Grigori“, meint Brand, der in der oberen Koje liegt und sich gerade eine Zigarette angsteckt hat, deren Rauch noch oben durch die Dachluke abziehen kann, „was Du über Deine Frau und ihre Schwester gesagt hast und über die russischen Frauen, die ihre Männer nicht lieben, hat mich sehr bewegt“.
Grigori grunzt leicht. Er ist fast ein bisschen verunsichert über die offene und gefühlvolle Anteilnahme seines Freundes. „Danke“, antwortet er, „es ist leider so. Ich kenne keinen Russen, der etwas anderes sagt“.
Brand nimmt einen Zug von seiner Zigarette und bläst den Rauch durch die Dachluke. „Weißt Du, ich denke manchmal, dass es mir mit Tia Nam auch so ergangen ist. Es waren ja keine zwei Jahre, die wir zusammen waren. Da können Frauen wohl ein längeres Theaterstück aufführen“.
„Nein, nein“, widerspricht der Russe brummig, „es ist nicht so, dass sie spielen. Sie glauben, was sie sagen und tun. Sie haben nur ein anderes Verhältnis zu uns Männern, als wir denken“.
„Was meinst Du“, fragt Brand.
„Sie ordnen uns irgendwo ein, mein Freund. Wenn man erkennt, wo sie uns einordnen ist das nicht sehr schmeichelhaft. Wir sind wichtig, ja! Aber ihr Herz schlägt für das, was wir ihnen bieten können. Jedoch nicht für uns.“
„Ich verstehe nicht ganz“, antwortet der Agent irritiert.
„Sicherheit, mein Lieber, vor allem Sicherheit. Besonders für die Familie. Einen gewissen Luxus und ein Gefühl von Macht. All das leihen sie gewissermaßen bei uns aus“.
„Verstehe“, sagt Brand, „sie haben es selbst nicht und brauchen es von uns. Wir sind wie Dienstleister“?
„Das ist vielleicht zu stark ausgedrückt, Marc. Wir sind keine Dienstleister für die Frauen. Sie kennen den Unterschied zwischen einem Handwerker und dem eigenen Mann. Wir sind der Ausdruck dessen, was ihnen fehlt und der weiblichen Macht, es sich zu besorgen. Die tiefere Wurzel des Bedürfnisses einen Mann unter Kontrolle zu bringen, ist der Neid und die Selbstbehauptung. Sie wollen jemanden, der ihnen täglich zeigt, was für einen hohen Wert sie haben. Am besten man opfert sich für sie. Dann fühlen sie sich unendlich wertvoll“.
„Bumm“, antwortet der Agent und wirft seine Zigarette in den Luftstrom der Dachluke, welcher sie rot leuchtend aus dem Fahrerhaus befördert.
„Richtig opfern kann man sich allerdings nur einmal. Darin liegt eine gewisse Tragik“.
„Mir scheint“, sagt Brand, „ dass alles, was Du darüber erzählst, tragisch ist“.
„Ist es auch“, beharrt Grigori, „sogar sehr tragisch. Aber nur für uns und nicht für unsere Frauen“.
Grigori schneidet sich ein Stück von der russischen Salami ab, die er sich mitgenommen hat und reicht auch seinem Freund ein Stückchen in die obere Koje. Beide kauen darauf herum, bis sie weich genug ist und sich im Mund auflöst.
„Verdammt“, schimpft Brand plötzlich, „woher nehmen sie das Recht dazu“!
„Es sind ihre Mütter, Marc“, antwortet Grigori, „ihre Mütter sind es. Sie haben ihre Töchter auf eine Reise geschickt, auf der sie beweisen müssen, dass sie ebenso der Mittelpunkt des Universums sein können, wie die eigene Mutter. Deshalb verlieren die Frauen auch nie den Kontakt zu ihren Müttern. Sie sind ihr Bezugssystem, ihr Benchmark, ihre Auftraggeber“.
„Dann hatte Tia Nam ein Problem“, kommentiert Brand, „denn sie hat ihre Mutter schon früh verloren“.
Brand runzelt die Stirn.
„Wenn aber der chinesische Geheimdienst zu ihrer Mutter geworden ist, dann würde Deine Theorie stimmen, Grigori. Denn dann gäbe es für Tia Nam nur eine Loyalität zur vierten Abteilung oder vierten Brigade und nicht zum Mi6 und auch nicht zu mir“.
Der Agent spürt, wie ihm seine Äußerung physisch weh tut, aber er fährt fort.
„Ich musste sie lieben, denn sie hat alles dafür getan. Das war der „mütterliche“ Auftrag ihres Dienstes gewissermaßen. Sie war zwei Jahre lang glücklich, dass ich sie geliebt habe. Denn so erfüllte sie ihren Auftrag und konnte die „eigene Mutter“ zufrieden stellen“.
Grigori stimmt zu.
„Das ist monströs“, schimpft Brand, „einfach monströs.“
„Wenn“, sagt Grigori und trinkt einen Schluck Kwas, eine Art russische Brause, „wenn sie tatsächlich beim Geheimdienst ist. Es kann ja genauso gut sein, dass sie entführt und ermordet wurde“.
„Grigori“, schreit Brand, der in diesem Augenblick die Fassung verliert, „hör auf! Ich will es nicht hören! Sie wurde nicht ermordet, hörst Du? Ich werde sie wiederfinden, in dieser verdammten Wüste mit dem Weltraumbahnhof, der mir scheißegal ist. Ich werde sie wiederfinden und dann werde ich sie zur Rede stellen“.
„Was wirst Du“, antwortet Grigori ebenfalls etwas zu laut, so dass Sascha, der Fahrer ihn mit einem „Spakoij se“ zur Ordnung ruft, „Du wirst eine Frau zur Rede stellen?? Das klappt niemals! Sie wird Dir alle Schuld geben und sich selbst als Unschuldsengel darstellen. Entführe Du lieber Deinen Wissenschaftler“!
„Wir werden sehen“, antwortet Brand, der langsam wieder abkühlt. „Sie gehört immerhin zu einem feindlichen Geheimdienst. Ich werde ihr eine Waffe vor die Augen halten und ihr sagen, dass ich sofort abdrücke, wenn ich den Eindruck habe, dass sie lügt. „Sag nicht, dass sie Dich gezwungen haben“, werde ich ihr im drohenden Ton sagen. „Dann drücke ich sofort ab“!
Grigori verschränkt seine Arme hinter dem Kopf und beginnt zu grinsen.
„Marc Brand“, sagt er dann fast belustigt, „Du würdest nicht einmal auf sie schießen, wenn es zum Kampf käme und sie auch eine Waffe auf Dich richten würde. Du liebst sie und würdest Dich einfach von ihr erschießen lassen“.
„Denkst Du“, fragt Brand verunsichert.
„Ganz sicher“, antwortet Grigori, „das ist die Macht der Frauen. Zumindest wenn man sie liebt“.