Sönke Paulsen, Berlin
Im Express ist von unerträglichen Äußerungen der Kinderrechtskommissarin Russlands, Maria Lwowa-Belowa, im russischen TV die Rede. Der Fokus titelt denselben Artikel, „Putin Vertraute erzählt, wie sie entführten Ukrainer (15) brach“.
Wer jetzt Beispiele von „schwarzer Pädagogik“, psychischer Gewalt oder gar Folter erwartete, wurde eines Besseren belehrt. Vermutlich ging man davon aus, dass 90% nur die Überschriften lesen und von den übrigen 10% wiederum 90% den Artikel nur überfliegen, so dass ohnehin nur 1% der Leser die Inhaltslosigkeit der getitelten Behauptungen bemerken würde.
Aussagen von Lwowa-Belowa wie folgende sollten die starke Überschrift begründen.
„Der 15-jährige Filip habe „nicht nach Russland“ gehen wollen und sei „genervt von Moskau und Russland“ gewesen, so die Putin-Vertraute. Doch sie habe es geschafft, ihn auf Linie zu bringen.“
„Sie beschrieb, wie der Junge die „familiäre Atmosphäre ernsthaft verkomplizierte“, da er unter posttraumatischem Stress litt und eine negative Haltung gegenüber Russland hatte.“
Ihre Anstrengungen, den ukrainischen Jungen auf die russische Seite zu bringen, wird so beschrieben:
„„Er hat die ganze Zeit ukrainische Lieder gesungen. Ich sagte ihm: ‚Versuchst du, mich zu provozieren, indem du auf Ukrainisch singst? Wir sind Brudervölker‘“, erzählte sie.
Als der Junge in Moskau weiterhin pro-ukrainische Webseiten las, habe sie ihn zur Rede gestellt: „Hör zu, du bist jetzt in Russland, du musst deine Einstellung ändern.“
Nun ist die Entführung von 19600 ukrainischen Kindern und Jugendlichen nach Russland keine Bagatelle, sondern ein Völkerrechtsverstoß, für den auch die russische Kinderrechtskommissarin zu Recht auf der Fahndungsliste von DenHaag steht.
Ich möchte also überhaupt nichts schön reden.
Allerdings stinkt mir diese Art der Berichterstattung gewaltig. Wenn von unerträglichen Äußerungen und dem Brechen eines jungen Menschen die Rede ist, kann man in den Medien nicht mit so banalen Äußerungen kommen, wie sie Maria Lwowa-Belowa in einer russischen TV-Show getan hat. Das ist dann pure Manipulation.
Der Leser wird aufgefordert Aussagen der Putin-Vertrauten für unterträglich und brutal zu halten, weil der Hintergrund nun einmal der russische Überfall auf die Ukraine und die Entführung der jungen Ukrainer ist. Man soll Aussagen zustimmen, die aus dem Text der Artikel überhaupt nicht hervorgehen (unerträgliche Äußerungen und Brechen eines Menschen).
Ich erinnere mich gut, als das Adoptionsverbot des Kremls für russische Kinder durch Amerikaner, als Reaktion auf den Magnitsky-Act der USA in der Öffentlichkeit begründet wurde. Da war von unterträglichen Manipulationen und Misshandlungen russischer Adoptivkinder durch amerikanische Familien die Rede. In Wahrheit ging es aber darum dem Magnitsky Act Washingtons eine repressive antiamerikanische Maßnahme aus Moskau entgegenzusetzen.
Was in solchen Artikeln wie den zitierten versucht wird, ist kein bisschen besser, als das russische Adoptionsverbot. In beiden Fällen sind es politisch motivierte Behauptungen, die der Leser gefällig zu aktzeptieren hat, wenn er auf der richtigen Seite stehen will.
Wir in Europa sollten uns das nicht gefallen lassen. Im Kommentarteil des Artikels gab es durchaus kritische Stimmen, die angemerkt haben, dass die Aussagen weder unerträglich sind, noch einen Brechen des Jungen beschreiben. Eine Leserin schreibt, dass es dazu wohl etwas mehr braucht, als das hören russischer Lieder (vor allem wenn der Junge aus dem Donbass stammt, wo russische Lieder schon immer gesungen wurden…Anmerkung des Verfassers).
Also warum können wir in den Medien nicht bei der Wahrheit bleiben und haben ständig das Gefühl, dass wir aufgepeitscht werden sollen?
Wenn das das Ergebniss unserer achtzig Jahre währenden Pressefreiheit sein soll, dann gute Nacht!