Woher kommen unsere Kriege?

Sönke Paulsen, Berlin

Was Robert Musil dachte und wie er zu einer schlichten Erkenntnis kam.

Während des ersten Weltkrieges wunderte sich Robert Musil darüber, dass die Menschen trotz des massenhaften Sterbens an der Front ihren ganz normalen Alltag in Berlin leben, der Krieg also kaum sichtbar ist.

„So sieht also Weltgeschichte in der Nähe aus; man sieht nichts.“

Die Ursachen des ersten Weltkrieges kann man sich laut Musil fast schon aussuchen, wie er später in einem Essay vermerkt.

„Die berühmte historische Distanz besteht darin, daß von hundert Tatsachen fünfundneunzig verlorengegangen sind, weshalb sich die verbliebenen ordnen lassen, wie man will.“

Allerdings ganz so pointiert lässt sich das Thema nicht abtun.

Wenn man über die Kriege unseres Jahrhunderts sprechen will, ist es nicht ganz unwichtig, sich zu überlegen, ob es neben regionalen Dauerkonflikten auch generelle Konflikte auf dem Erdball gibt, die vielleicht sogar einmal einen Weltkrieg provozieren könnten.

Als erstes fällt einem dann natürlich die Globalisierung ein, die ganz unterschiedliche Gesellschaften erfasst, von China bis nach Argentinien von den USA bis nach Asien und von Russland bis zur EU. Es gibt eine Vielzahl von gesellschaftlichen Modellen, die nicht unbedingt miteinander kompatibel sind.

Der westlich Liberalismus, der sich allmählich über innere Spaltungsprozesse zu einem Schaubild der globalen Gegensätze wandelt, das neben der klassischen demokratischen Mehrheitsgesellschaft mit starker Rechtsstattsbezogenheit über nationalistische Tendenzen mit betonter Abgrenzung von der Globalisierung bis zu einem multikulturell orientierten aber zugleich aggressiven Wertekapitalismus reicht. Die Zerfallstendenzen dieser Gesellschaften sind nicht zu übersehen.

Robert Musil konstatierte bereits nach dem ersten Weltkrieg in den zwanziger Jahren:

„Das Wasser läuft immer den Berg hinab. Eine gedeihende Gesellschaft befindet sich geistig in einem fortschreitenden Selbstzersetzungprozess.“

Gesellschaften die pluralistisch und liberal werden, können zwar bekanntlich erheblichen Wohlstand generieren, müssen aber irgendwann den inneren Zusammenhang und ein sie bindendes Sinngefüge aufgeben, um ihren Pluralismus aufrecht erhalten zu können.

Sie sind quasi permanent in Auflösung begriffen. Um diesen Auflösungsprozess zu beherrschen und eine gewisse Kohärenz zu erhalten, tendieren sie dann irgendwann zu festgefrorenen Fronten im Inneren, die immer unauflöslicher werden. Diesen inneren Krieg tragen unsere westlichen Gesellschaften auch in andere Länder. Man versucht quasi seine eigenen Truppen in anderen Gesellschaften zu finden, um im Inneren zu mehr Stärke und Durchsetzungfähigkeit zu kommen.

Der amerikanische Neokonservativismus mit seinem Sendungsbewusstsein, westlich Werte in andere Länder zu tragen ist eine Spielart dieser ideologischen Expansion. Sie zählt zu dem erwähnten, aggressiven Wertekapitalismus, da sie vor allem die Speerspitze für die wirtschaftliche Expansion bildet. In etwas anderer Form wurde dieser Ansatz auch von den ehemals linkssozialistischen Kräften in unserer Zivilgesellschaft übernommen und auch von den Umweltbewegungen mit ihrem häufig „ökoindustriellen“ Ansatz.

Die jüngsten Kriege in Syrien und Libyen sowie in der Ukraine, in Georgien und Moldawien sind Ergebnisse dieses neokonservativen Expansionismus, an dem sich auch die westliche Zivilgesellschaft intensiv beteiligt hat. So standen 2014 auf dem Maijdan in Kiew nicht nur neokonservative Amerikaner wie Lindsey Graham und John McCain sowie Victoria Nuland, sondern eben auch eine ganze Reihe von Grünen Spitzenpolitikern aus Deutschland, bei denen man sich fragte, welches Umweltprojekt sie denn in der Ukraine voranbringen wollten? Natürlich ging es den Grünen nicht um Umweltpolitik in der Ukraine.

Expansion in andere Länder ist vor allem Innenpolitik, in der Vorstellung vieler Linker und Grüner auch Weltinnenpolitik. Denn letztlich geht es darum, wer sich global und nicht nur in einem bestimmten Block von Ländern durchsetzt. Es ist auch der Grundgedanke von Trotzkis „Permanenter Revolution“. Ein russischer Revolutionär, der zum Staatsfeind Nummer Eins in  einem sozialistischen Russland wurde, das vor allem auf Abgrenzung und Abriegelung gegen den Kapitalismus bedacht war.

Unsere Zivilgesellschaft ist heiß gelaufen

Derzeit ist unsere Zivilgesellschaft dabei heiß zu laufen und sich überall auf der Welt gegen sogenannte rechte Politiker und Persönlichkeiten zu wenden, die mit einem rückwärtsgewandten Autoritarismus assoziiert werden.

Umgekehrt neigen die autoritären Gesellschaften, die man nicht immer als Diktaturen bezeichnen kann, die aber auf dem Weg dorthin sind, zu  einer brüsken Abgrenzung gegen den westlichen Liberalismus und setzen mangels eigener Zivilgesellschaft vor allem ihre Geheimdienste gegen den Westen ein. Subversion und Propaganda sind  in Russland und China erprobte Mittel, gegenläufige Gesellschaftsformen zu schwächen.

Zuletzt gibt es eine große Mehrheit an kleineren instabilen Gesellschaften, die nicht selten um ihre Existenz kämpfen und mal in die diktatorische, mal in die demokratische Richtung tendieren, je nachdem, woher sie sich Unterstützung erhoffen.

Alles in Allem eine giftige Mischung, die eine Menge globaler Konflikte und Kriege provoziert hat und täglich neu provoziert.

Der reisende Tod – wie der Krieg sich immer neue Schlachtfelder sucht

Der Ukraine-Krieg ist noch nicht vorbei und schon darf man spekulieren, wo die nächsten Schlachtfelder vorbereitet werden. Ob irgendwo an den russischen Außengrenzen oder auf dem Balkan, ob im Nahen Osten oder dieses Mal in Südost-Asien, ist ganz die Frage. Wer wann und wo zuschlägt und wer sich dann zu verteidigen hat, lässt sich schwer im Voraus sagen. Aber die Tatsache, daß ein neuer regionaler Krieg beginnen wird, wenn ein anderer beendet ist, zieht ihre Beweise aus der Geschichte. Wir waren in den letzten achtzig Jahren global betrachtet immer mit wenigstens einem Krieg konfrontiert und es gab keinen Tag in dieser Zeit des „relativen Friedens“, an dem nicht irgendwo gegeneinander gekämpft wurde, an dem kein Soldat und kein Zivilist getötet wurde.

Beim Übergang vom Kosowo-Krieg zum zweiten Tschetschenienkrieg gab es vier Kriege, die parallel schon tobten, in Dagestan, zwischen Indien und Pakistan, im Kongo und in Palästina. Alle Kriege waren Fortsetzungskriege von vorangegangenen kriegerischen Konflikten.

Das ist so selbstverständlich geworden, dass es die Öffentlichkeit in Erstaunen versetzte, als Russland im Jahr 2022 in die Ukraine einfiel, um dem Land ein für alle Mal den Garaus zu machen. Obwohl es dort schon militärisch seit 2014 zur Sache ging, war dies ein neuer Krieg. Denn davor wurde verdeckt und ohne Hoheitszeichen gekämpft. Die Krim und der Donbas wurden quasi in einer Sonderoperation gekidnappt. Dasselbe versucht Putin dann beim Einmarsch acht Jahre später als Sonderoperation zu erklären, nur dass es ganz offensichtlich ein Krieg war, der sich bereits nach wenigen Tagen in seiner vollen Grausamkeit zeigte und keine begrenzte Aktion.

Wer sich angesichts dieses Krieges die Haare raufte, weil im Jahre 2022 noch in Europa um nationale Grenzen gekämpft wurde und Menschen bereit waren, für diese veränderlichen und immer unbedeutenderen Grenzziehungen zu töten und zu sterben, konnte nicht getröstet werden, denn tatsächlich belaufen sich die Opferzahlen inzwischen auf fast eine halbe Million Leben, die vernichtet wurden! Unglaublich bei einer Rationalität dieses Krieges, die schwächer nicht sein könnte.

Allerdings gab es Intellektuelle, die sich schon in den neunzehnhundertzwanziger Jahren gewundert haben. Robert Musil schrieb in einem Essay kurz nach Ende des ersten Weltkrieges:

„Der Mensch hat sich seit 1914 als eine überraschend viel bildsamere Masse erwiesen, als man gemeinhin annahm. (…) Dieses Wesen ist ebenso leicht fähig der Menschenfresserei wie der Kritik der reinen Vernunft. Man soll nicht immer denken, daß es das tut, was es ist, sondern es wird das, was es – aus Gott weiß welchen Gründen – tut.“

Die Erfahrungen aus dem ersten Weltkrieg haben das Menschenbild stark verändert. Musil schreibt, dass der Mensch eben nicht das tut, was einem mehr oder weniger festgelegten Charakter entspräche, sondern das wird, was er auf Grund äußerer Einflüsse gerade tut. An anderer Stelle dieses Essays trifft der Autor des Romans „Der Mann ohne Eigenschaften“ diese Feststellung noch deutlicher.

„…die Erfahrung des Kriegs hat es in einem ungeheuren Massenexperiment allen bestätigt, daß der Mensch sich leicht zu den äußersten Extremen und wieder zurück bewegen kann, ohne sich im Wesen zu ändern. Er ändert sich, aber er ändert nicht sich.“

Wenn also Kriege ausbrechen sollen, wenn Schlachtfelder vorbereitet werden, darf man wohl nicht mit dem Widerstand des Menschen rechnen, auch wenn dieser dort geschlachtet werden soll.

Mit der Rationalität solcher Vorbereitungen ist Musil ebenfalls schnell im Klaren.

„Heute sind schlichtende Kräfte aus dem Bereich des common sense am Werk, um den Krieg als nutzlos und unvernünftig zu entwerten, und das sind gewiß schwere Argumente in einer auf Nutzen und Vernunft gerichteten Zeit; aber ich glaube, diese Art Pazifisten unterschätzt das explosiv-seelische Moment, das zu Kriegen jener zweiten Art gehört, das offenbar menschliche Bedürfnis, von Zeit zu Zeit das Dasein zu zerreißen und in die Luft zu schleudern, sehend, wo es bleibe. Dieses Bedürfnis nach »metaphysischem Krach«, wenn der Ausdruck erlaubt ist, häuft sich in Friedenszeiten als unbefriedigter Rest an. Ich vermag darin in Fällen, wo weit und breit keine Unterdrückung, keine wirtschaftliche Verzweiflung, sondern rings nur Gedeihen vorhanden war, nichts zu sehen, als eine Revolution der Seele gegen die Ordnung; in manchen Zeiten führt sie zu religiösen Erhebungen, in andren zu kriegerischen.“

An anderer Stelle betont er immer wieder, dass niemand wirklich verstanden habe (und das gilt heute noch), welches die entscheidenden Treiber waren, die in den ersten Weltkrieg führten. Eher waren es eine Reihe von ungünstigen Umständen und Zufällen, zu denen auch das „Attentat von Sarajewo“ gezählt haben mag und dieser unbewusste Kriegswille an sich, von dem Musil ausgeht.

Gehen wir also auch heute davon aus, dass Kriege stattfinden sollen, weil maßgebliche Kreise das so wünschen und es immer genug Soldaten gibt, die sich im Krieg von der lästigen Ordnung ihres Alltages befreien wollen?

Wiederholen wir also noch einmal mit Musil:

„Dieses Wesen ist ebenso leicht fähig der Menschenfresserei wie der Kritik der reinen Vernunft. Man soll nicht immer denken, daß es das tut, was es ist, sondern es wird das, was es – aus Gott weiß welchen Gründen – tut.“

Man könnte Musil auch durchaus so verstehen, dass Kriege desto unwahrscheinlicher werden, je länger man sie vermeiden kann. Denn der Mensch wird letztlich zu dem, was er tut. Am Ende vielleicht doch zum Pazifisten?

Schöne wäre es. Aber es sieht nicht danach aus.

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