Sönke Paulsen, Berlin
Reportagen über die russische Jugend haben im Westen Konjunktur. Vielleicht, weil man bei uns hofft, dass diese jungen Leute, das Land schon in Richtung Westen öffnen werden, letztlich auch den verhassten Putin entmachten könnten. Die Jugend ist in westlichen Ländern ein politisch umworbenes Klientel, in Russland auch.
Allerdings stehen die meisten jungen Leute auf Putin und fühlen sich als Patrioten. Daran kommen auch westliche Reportagen und Dokumentationen nicht ganz vorbei, auch wenn systemkonforme Jugendliche meist nur am Rande beachtet werden, bilden sie eindeutig die Mehrheit der jungen Menschen in dem riesigen Land.
Mehr beachtet werden dagegen die Jugendlichen, die sich in der Opposition zum Putinismus sehen und teilweise sehr radikale Aussagen über Russland machen. Der Vorwurf, dass das Land marode und der Kreml in der Hand von Verbrechern sei, ist da noch eine milde Plattitüde.
Meist übersehen, weil nicht auf dem Speiseplan westlicher Journalisten, ist der gelungene Multikulturalismus in Russland. Die Besonderheit, dass Muslime, Christen und Juden, Tartaren, Kaukasier und Mongolen in diesem Riesenland relativ harmonisch miteinander auskommen, wird nicht thematisiert. Der Begriff Multikulturalismus ist westlich geprägt und durch Migration gekennzeichnet. In Russland leben diese Volksgruppen autochton seit Jahrhunderten und pflegen ihre Traditionen, seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, verhältnismäßig ungestört. Junge Menschen werden von diesen Traditionen geprägt und integrieren sich gleichzeitig über das russische Bildungssystem in die Gesellschaft. Der Patriotismus der Russen ist hier keine Zwangsjacke, sondern der Kit, der auch junge Menschen an ihr Land bindet.
Anders, als es viele westliche Journalisten darstellen, ist die russische Gesellschaft divers, aber keinesfalls kaputt. Sie zeigt den jungen Menschen viele Perspektiven auf und bietet den meisten eine gute bis sehr gute Bildung an.
Die relative Armut vieler, auch junger Russen soll hier nicht weggeredet werden, aber die ist nicht vergleichbar mit der Armut in Entwicklungsländern, weil Bildung, Medizin und die Nutzung der Infrastrukturen für wenig Geld möglich sind. Armut kann dann auch ein Antrieb sein, sich selbst und die Gesellschaft nach vorne zu bringen. Viele junge Menschen in Russland treibt genau das nach vorn, oft im Einklang mit dem Putinismus.
Russland steht dabei nicht ohne Perspektive da. Die Synthese aus Traditionalismus und technischem Fortschritt bietet eine ganze Menge Möglichkeiten auch für junge Menschen. Technische und naturwissenschaftliche Berufe sind dabei, wie auch im Westen, zukunftsträchtiger, als Geisteswissenschaften. Dennoch werden junge Leute portraitiert, die beispielsweise leidenschaftlich Friedrich Nitzsche und Artur Schopenhauer lesen, Kampfsport lieben und Russland, unter Putin, auf dem richtigen Weg sehen. Auch künstlerische Berufe werden in Russland intensiv gefördert. Russen genießen hier weltweit einen legendären Ruf.
Das gleiche Problem wie wir haben die Russen, wenn es darum geht, schlecht gebildete junge Menschen in Arbeit zu bringen. In ländlichen Räumen gibt es für junge Menschen ohne Ausbildung praktisch keine Perspektive. Das macht ganze Regionen in Russland zu Orten der Hoffnungslosigkeit. Man kann nicht davon ausgehen, dass sich perspektivlose Jugendliche in russischen Dörfern brav an den traditionellen Lebensstil anpassen. Auch sie haben über das Internet Zugang zur globalen Welt, stehen aber vor vergitterten Fenstern, wenn es um die eigene Lebensperspektive geht. Hier entsteht viel Kriminalität und Russland bräuchte mehr Sozialarbeiter als Geheimdienstmitarbeiter. Derzeit ist es umgekehrt. Der Putinismus hat noch nicht gelernt mit sozialen Problemgruppen angemessen umzugehen.
Auch Minderheiten, insbesondere politisch missliebige Minderheiten sind nicht Sache Putins und werden systematisch ausgegrenzt und allein gelassen. Toleranz ist für eine Mehrheitsgesellschaft im Aufbruch, leider kein vorrangiges Anliegen.
Jenseits aller Schönmalerei wird Russland bei uns allerdings deutlich unter Wert gehandelt. Das Potential des Landes ist gewaltig, die Jugend gut ausgebildet und motiviert und die Gesellschaft ist zumindest so kohärent, dass destruktive Dynamiken, wie derzeit in den USA, wenig Raum greifen können.
Ob dies an einem Mangel an Demokratie liegt oder Ausdruck einer grundsätzlichen Intaktheit der russischen Gesellschaft ist, mag bei uns ein Glaubensstreit sein. Ich tendiere zu der letzteren Einschätzung. Der Putinismus hat Russland ein ganzes Stück weit geheilt. Das Land hat gute Zukunftsaussichten!