Nur die Belarussen selbst wollen die Freiheit

Harte Repressionen in Minsk gegen die wütende Bevölkerung. Schusswaffen werden eingesetzt.

Sönke Paulsen, Berlin

Es sah anfangs so aus, als würde Putin weiterhin auf den letzten Diktator Europas setzen und gratulierte Lukaschenka mit als erster zur „gewonnenen“ Präsidentschaftswahl.

Inzwischen hat die Administration von Lukaschenka mehrere rote Linien bei der „Befriedung“ der Wahlproteste in Belarus überschritten. Die letzte rote Linie war heute wohl der Einsatz des Militärs in Minsk und Brest und das benutzen von scharfer Munition gegen Demonstranten.

Heute fielen überdies Panzertransporte in Richtung Minsk auf und es wurde über die sozialen Medien auch eine Luftlandeeinheit in Minsk identifiziert. Die Behauptung aber, die in einigen Tweets aufgestellt wurde, man habe russische Truppen identifiziert, die dort an der Seite Lukaschenkos für Ordnung sorgen sollen und mit Schnellfeuergewehren bewaffnet seien, stimmt nur in einem Punkt nicht, da es sich eindeutig um Spezialkräfte aus Belarus handelt.

Es ist auch bei der derzeitigen Berichterstattung auf RT (Russia Today) nicht zu erwarten, dass der Kreml nun Seite an Seite mit dem weißrussischen Diktator steht. Die Berichte sind viel zu kritisch und verurteilen das Vorgehen Lukaschenkas gegen die eigene Bevölkerung fast noch schärfer, als die westlichen Medien.

Was also hat Russland nur vor?

Die Option, von einer westlich unterwanderten Revolte zu sprechen, die der belarussische Präsident legitimer Weise zu bekämpfen hat, dürfte ausfallen. Die russischen Medien haben sich bereits gegen Lukaschenka positioniert.

Der russische Präsident hält sich derzeit zurück, dürfte aber den kritischen Ton gegen Belarus gebilligt haben. Sonst wäre er nicht in breiter medialer Front angeschlagen worden.

Seit dem 14.8. gibt es allerdings zunehmend Artikel in den russischen Medien, nach dem Muster: Droht Belarus ein Maidan? Diese Artikel unterstellen westliche Einflussnahme im großen Stil um einen Sturz Lukaschenkas zu erreichen. Das ist zwar wenig glaubwürdig (der Westen hatte sich eher mit Lukaschenka arrangiert) deutet aber darauf hin, dass Russland sich eine Intervention in Belarus vorbehalten will.

Das wissen auch der weißrussische Präsident und seine Leute ziemlich genau und versuchen nun eine schnelle, harte Machtdemonstration gegenüber der eigenen Bevölkerung, um die Proteste schnell zu ersticken.

Wenn es klappt ist Ruhe und auch der Kreml wird zur Tagesordnung übergehen.

Wenn nicht, hat Putin nur wenige Optionen zu reagieren. Keine davon, das gegenläufige Signal ist bereits in der Welt, wird auf eine offene Unterstützung des Diktators hinauslaufen.

Wenn aber die Proteste erfolgreich werden, kann die Revolution verwestlichen und damit die wichtige Belarus-Russische-Freundschaft mit all ihren geostrategischen Implikationen zerstören.

Putin kann also weder Lukaschenka stützen, noch die Revolution, wenn erfolgreich, einfach so laufen lassen. Es bliebe dann nur der Sturz Lukaschenkas am besten verbunden mit Neuwahlen.

Die Frage ist, ob Russland für einen solchen vorbeugenden Regime-Change die nötigen Kanäle in Belarus besitzt.

In diesem Szenario sollte der Kreml bereits eine Schattenregierung in petto haben, die er dann in kurzer Zeit als Alternative zu Lukaschenka aufbauen könnte. Ob dies der Fall ist und ob Russland tatsächlich den Durchgriff auf die Macht in Belarus hat, ist völlig offen. Es existieren faktisch keine Berichte darüber. Die Zusammenarbeit zwischen KGB in Belarus und den russischen Geheimdiensten ist allerdings vertraglich verbrieft. Die GUS sieht eine solche enge Zusammenarbeit vor. Ob sie noch aktuell und intensiv ist, bleibt im Augenblick unklar.

Unklar bleibt auch, welchen Rückhalt das Frauen-Trio (Die Flötistin Kalesnikava, die Hausfrau und gelernte Lehrerin, Ehefrau des gleichnahmigen inhaftierten Bloggers Tikhanovskaya und ihre Mitarbeiterin) tatsächlich in der Bevölkerung haben. Können sie eine neue Regierung organisieren, die das Land stabilisiert? Lukashenkas Apparat dürfte wohl kaum hilfreich sein.

Der Bruch, den die Annexion der Krim im Jahr 2014 zwischen Lukaschenko und Putin erzeugt hat, ist tief. Belarus sah sich indirekt vom Vorgehen Russlands gegen die Ukraine bedroht und fühlte sich an die Vorschläge Putins zur Eingliederung Weißrusslands in die Russische Föderation erinnert. Danach wurde Russland zum Partner zweiter Klasse und die Beziehung zur Ukraine, mit ihren neuen westlichen Verbindungen, wurde intensiviert. Lukaschenka betonte dabei immer, dass über Weißrussland keine direkten oder indirekten Angriffe auf die Ukraine erfolgen dürfen.

Der kürzliche Konflikt um russische Söldner der russischen Kampfgruppe Wagner, die in Belarus verhaftet wurden, deutet zumindest auf einen Machtkampf zwischen russischen und weißrussischen Geheimdiensten hin. Die Truppe hatte zuvor in der Ostukraine gegen Kiew gekämpft. Jetzt unterstellt Lukaschenka, dass diese Söldner nicht auf der Durchreise nach Afrika waren, sondern Weißrussland destabilisieren wollten. Sollte es zutreffen, dass Russland, wie von Lukaschenko behauptet, die Wahlen zur Destabilisierung des Landes nutzen wollte und deshalb verdeckte Einheiten nach Minsk geschickt hat, wäre Lukaschenka jetzt wohl nicht mehr an der Macht.

Viel eher hat der Präsident die durchreisenden Söldner wohl propagandistisch genutzt, um auf den langen Arm aus Moskau zu verweisen und die eigene Bevölkerung um sich zu scharen. Das hat nun nicht funktioniert. In Belarus herrschen nach den Wahlen bürgerkriegsähnliche Zustände.

Der russische Appetit auf Weißrussland, der schon immer groß war, könnte in dieser Situation tatsächlich wachsen und Putin als Befreier des Landes von einem langjährigen Diktator auftreten.

Genau dieses Szenario fürchtet die EU und hält sich daher mit ihrer Propaganda gegen den brutalen Diktator Lukaschenka zurück. Ein russisch „befreites“ Belarus wäre für die EU und vor allem für die Ukraine auf lange Zeit verloren! Selbst wenn es zunächst anders wirken würdem, wenn eine westlich orientierte Regierung Lukaschenka nachfolgen könnte, würde die Option der politischen Einflussnahme durch den Kreml, mit allen Mitteln, bleiben.

Es könnte tatsächlich die absurde Situation entstehen, in der die EU einen der schlimmsten Diktatoren Europas stützen muss und sich damit in der russischen Welt vollkommen diskreditiert.

So hoffen alle beteiligten Stakeholder insgeheim, dass die Revolution in Minsk schon nicht stattfinden wird und man die letzte Diktatur Europas noch ein paar Jahre konservieren kann.

Nur die Belarussen selbst, die wollen natürlich die Freiheit!

spaulsen

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