Sönke Paulsen, Berlin
Politische Moral und rechtsstaatliche Grundsätze werden neu ausgehandelt
Wer hätte das gedacht? Julian Assange darf im Gefängnis heiraten. Ein abgemagerter Fünfzigjähriger mit eingefallenem Gesicht, der seit bald zehn Jahren keinen Platz am freien Himmel mehr gesehen hat.
Die „Gnade“ ist so groß, dass sie durch alle Medien geht.
Der Journalist, der mit allen Winkelzügen im Hochsicherheitsgefängnis festgehalten wird, der an seinen eigenen Verhandlungen nicht teilnehmen, seine eigenen Anwälte nur eingeschränkt sprechen darf, obwohl er „nur“ in Auslieferungshaft sitzt und kein verurteilter Terrorist in einem Revisionsverfahren ist.
Das Verhalten der britischen Justiz ist eigentlich nur noch zu verstehen, wenn man davon ausgeht, dass rechtlich die „Unschuldsvermutung“, die jedem Mörder zugebilligt wird, nicht mehr gilt.
Das Verhalten der Öffentlichkeit ist überhaupt nicht mehr zu verstehen.
Öffentliche Verteidiger von Julian Assange finden sich in allen politischen Lagern aller Länder und ebenso erbitterte Ankläger, die im Extremfall dem Wikileaks-Gründer die Todesstrafe wünschen.
Es gibt viele Verteidiger Assanges in der europäischen und amerikanischen Linken, der britische Guardian, die deutsche TAZ, der Spiegel, die französische Liberation, sogar die ambivalente Washington Post halten die vorbereiteten Anklagen gegen Assange für einen Angriff auf die Pressefreiheit. Al Jazeera fordert die sofortige Freilassung und man könnte diese Liste beliebig fortsetzen, wenn nicht in denselben Medien Artikel stünden, die eine Einschränkung der Pressefreiheit, zumindest im Internet fordern, damit rechte gesellschaftliche Positionen wirksam unterdrückt werden können. Der ehemalige SPD-Chef in Deutschland, Sigmar Gabriel, gehört zu den Unterzeichnern eines Appels zur Freilassung von Assange und seine Partei hat in der abgelaufenen Legislaturperiode ein weitreichendes Zensurgesetz für das Internet durchgesetzt. Ein Herzensanliegen der SPD und Leuchtturmprojekt.
Das soll man noch mitkommen.
Lösen sich die westlichen Demokratien nun im Chaos auf?
Die Rechten in Europa, aber auch die autoritären Regierungen im Osten und Südosten werden nicht müde, darauf hinzuweisen, dass Assange ein politischer Gefangener des Westens ist. In Russland wird der Whistleblower Edward Snowden vor den USA geschützt. Menschen, die Verbrechen aufgedeckt haben, aber jeweils die Verbrechen der anderen Seite. Menschen also, die als Whistleblower der eigenen Verbrechen vermutlich schon längst tot wären, wie die Journalistin Anna Politkowskaya und der Politiker Boris Nemzow, die auch Verbrechen in Tschetschenien unter der Präsidentschaft Putins angeklagt haben.
Es gilt auf der Welt und eben auch in der so genannten freien Welt nicht mehr ein allgemein verbindliches moralisches und rechtliches Empfinden und sogar die anerkannten rechtsstaatlichen Grundsätze, wie Meinungsfreiheit, Unschuldsvermutung und Menschlichkeit stehen in Frage. Stattdessen scheint der Gerechtigkeit dadurch gedient zu werden, dass jeder irgendeine Lobby hat, die ihn schon beschützen wird.
Wehe, wer durch diese Maschen fällt. Wehe dem, der auf eine allgemeine Moral angewiesen ist, weil er keine Unterstützer hat. In einer Welt, in der sich das Recht des Stärkeren breit gemacht hat, herrscht das finstere Mittelalter.
Optimistisch betrachtet, kann man hoffen, dass derzeit neue Regeln ausgehandelt werden, weil die verdeckte Einflussnahme zweier Supermächte aus dem kalten Krieg eben nicht mehr funktioniert und diese ganz offen das Recht beugen müssen, um ihre Macht zu erhalten. Eine dritte Supermacht, ebenfalls eine Diktatur, ist dazugekommen. China. Ein Staat der völlig anderen Regeln folgt, als der Rest der Welt und der sich anschickt, seine Regeln vom „himmlischen Frieden“, gern auch kombiniert mit einem gefährlichen Virus, um die Welt zu schicken. Welchen Einfluss wird China auf die neuen Regeln nehmen?
Es gilt als sicher, dass sich freiheitsliebende Menschen zukünftig irgendwo unterstellen müssen. Das meint, dass sie sich möglichst nur in einem starken politischen Lager aufhalten werden, in dem ihnen nichts passieren kann, weil sie hier unter Gleichgesinnten sind. Die europäischen und amerikanischen Medien demonstrieren das derzeit ziemlich deutlich mit ihrem Journalismus, der immer nur eine bestimmte politische Richtung bedient. Wer abweicht, fliegt raus und kann schnell in „Vogelfreiheit“ geraten. Wie Assange.
Dessen Lebenschancen sind gewaltig geschwunden und seine Überlebenschance sinkt von Tag zu Tag. Ein deutliches Zeichen an alle Journalisten, sich irgendwo unter zu stellen. Notfalls auch in einem autoritären Land, wenn man die Politik dort irgendwie mittragen kann. Die größte Gefahr droht denen, die sich zwischen den Stühlen bewegen, die mal rechts und mal links austeilen und die neuen Machthaber, welche die Welt unter sich aufteilen, vielleicht sogar wechselseitig ärgern.
Die Leben nicht lange!