Steht die Ukraine vor dem militärischen Aus?

Sönke Paulsen, Berlin

Die ukrainische Armee kämpft nicht so, wie in den ersten Tagen des Krieges. Sie hat sich in den Angreifer verhakt und erleidet dadurch hohe Verluste. Ist das Kalkül oder Schwäche?

Nach Wochen, in denen man sich militärische Lagekarten und Analysen zum Krieg im Donbas fast täglich angetan hat, entsteht auch beim Beobachter dieses Krieges langsam eine gewisse Müdigkeit. Diese Müdigkeit verhindert, dass man auf neue und wirkungsvolle Ideen kommt. Dies mag auch das Problem der Ukrainischen Armee sein. Denn sie hat sich die Materialschlacht im Donbas von den Russen gewissermaßen aufdrängen lassen. Bei einer Artillerieüberlegenheit von 15:1 müssten die Ukrainer schon sehr beweglich sein, um sich nicht erdrücken zu lassen. Genau diese Beweglichkeit fehlt, weshalb die Russen derzeit auf der Siegerstraße unterwegs sind.

Etliche Militärbeobachter geben der Armee der Ukraine die Empfehlung mehr auf eine Hit and Run-Methode zu setzen und so die eigenen Verluste niedrig zu halten. Das Problem bei solchen Ratschlägen ist eben nur, dass man den Russen dann wesentlich mehr Raumgewinne zugestehen müsste. Gewinne, von denen man nicht weiß, ob sie sich rückgängig machen lassen.

So hat die Ukrainische Seite die Taktik gewählt, sich zu verschanzen und die Russen gegen Industrieanlagen, große Wohnsiedlungen anrennen zu lassen, damit sie möglichst hohe Verluste erleiden. Das mag funktionieren, aber niemand weiß, wie viel Verluste die Russen wegstecken können. Den Donbas würde Russland auch unter hohen Verlusten einnehmen, ob sie danach weitergehen, hängt von ihrem Zustand ab.

Vielleicht geht die Taktik der Ukrainer auf, die Russen in Sjewjerodonezk und Lysychansk verbluten zu lassen, aber vermutlich nicht. Denn die Übermacht ist in dieser konzentrierten Form so groß, dass Russland immer neue Truppen in diese Brennpunkte schicken kann und diese Truppen machen Fortschritte. Sjewjerodonezk ist praktisch eingenommen und die Nachbarstadt Lysychansk ist operativ fast eingekesselt. Es gibt kaum nach Versorgungswege, die nicht von den Russen kontrolliert werden. Die Option, die Russen in einen Häuserkampf zu locken wird letztlich mit einer kompletten Einkesselung von tausenden ukrainischen Soldaten bezahlt, die Opfer des massiven Artilleriebeschusses durch die Russen werden.

Nun könnte man diese Taktik, sich in den Gegner zu verkeilen, verteidigen, wenn auf Zeit gespielt wird. Eben dann, wenn Zeit so wichtig ist, dass man auch Menschenleben dafür opfert. Aber die Frage ist dann schon, was in dieser Zeit geschieht. Sind ein paar Geschütze, die aus dem Westen kommen, so kriegsrelevant? Hat man noch große Ressourcen, die man für einen Gegenschlag sammeln und vorbereiten könnte? Bis auf die andere Lage um die Hauptstadt Kiew hatten Gegenoffensiven der Ukrainer bisher kaum Erfolg. Das macht skeptisch.

Wenn die Russen tatsächlich ihre Hauptkräfte in der Region Lugansk gebündelt haben, warum können die Ukrainer bei versuchten Gegenangriffen in der Region Kherson so wenige Erfolge erzielen. Fast wirken diese Attacken so, als versuchten die Ukrainer sich zum nächsten Dorf durchzumogeln, um dann von den Russen entdeckt und aufgerieben zu werden. Das weckt Zweifel an der Schlagkraft der Ukrainischen Armee, die bisher viel gelobt wurde. Auch die Entsetzung von Kharkiv vor einem Monat ging mehr als zäh vonstatten und wird nun von den Russen teilweise wieder rückgängig gemacht.

Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, dass hier ganz generell ein starker Angreifer gegen einen schwachen Verteidiger kämpft, der darüber nicht sehr trickreich vorgeht. Vermutlich ist die Angst der Ukrainer, den Angriffen der Russen nichts mehr entgegensetzen zu können, der Grund, warum sie die Aggressoren nicht in die Tiefe des Landes locken und sie dadurch überdehnen und schwach werden lassen. Sie dann im Rücken und auf den Transportwegen anzugreifen und zu schwächen. Dieser Krieg mit Raum wird von den Ukrainern faktisch nicht mehr geführt. Ist die Angst zu groß oder sind sie zu schwach? Das wird sich in den nächsten Wochen zeigen.

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