Sönke Paulsen, Berlin
Wir regen uns ja in Wirklichkeit über die „letzte Generation“ auf. Was sind die unverschämt, von sich zu behaupten, sie seien die letzte Generation! Das wissen die doch gar nicht. Vielleicht kommen noch einhundert Generationen nach ihnen, die mit der Erderwärmung ganz gut leben können?
Aber geht es darum wirklich?
Die Aktivisten, die in unseren Städten Chaos verursachen, machen in Wahrheit etwas, was uns viel mehr ärgert und aufregt. Sie schaffen eine unmittelbare Verbindlichkeit ihrer Ideen für ihr Handeln. Anders ausgedrückt, sie versuchen, nicht nur zu reden, sondern auch so zu handeln, wie sie reden. Das ist in unserer heutigen Zeit ein schwerer Verstoß gegen das allgemein akzeptierte gesellschaftliche Verhalten. Wo kämen wir dahin, wenn jeder das tun würde, was er denkt und sagt?
Natürlich ist es geradezu vorgeschrieben, an den Klimawandel als menschliche Schuld zu glauben und Besserung zu geloben. Erlaubt sind auch kleine symbolische Schritte. Aber ein radikaler Ansatz, der in das allgemeine Leben eingreift, das ist ein Tabubruch. Das ist politisch nicht mehr korrekt.
Wir dürfen gendern nach Herzenslust und müssen es sogar. Wir dürfen alle Emanzipationsbewegungen gut finden, die es irgendwo auf der Welt gibt, aber wir dürfen dabei niemandem auf die Füße treten. Deshalb finden sich bei uns so wenige Unterstützer, für diejenigen, die offen den Islam als homophob, emanzipationsfeindlich und autoritär angreifen. Weil wir damit Millionen von Muslimen auf die Füße treten und genau das ist nicht erlaubt.
Also immer dann, wenn aus unseren edlen Einstellungen und Werten Konsequenzen folgen müssten, kneifen wir durch die Bank komplett und ziehen uns zurück. Alles andere würde uns öffentlichen Angriffen, Schmähungen und schlimmstenfalls Schädigungen unserer Existenz aussetzen. Genau die Konsequenzen also, welche die Klimakleber in Kauf nehmen um authentisch zu sein.
Authentizität aber fordert Täterschaft. Es ist ein ursprünglich kriminologischer Begriff, mit der auf Täterschaft hingewiesen wurde. Im positiven Sinne der Authentizität kann man aber auf Täterschaft nicht verzichten. Wer nur etwas denkt und nicht entsprechend handelt, kann nicht authentisch sein.
Nehmen wir das Beispiel des Islam. Wenn man alle gesellschaftlichen Strömungen, die die sexuelle Selbstbestimmung verneinen und unterdrücken, ablehnt, muss man auch den Islam ablehnen. Wer das aber tut ist ein Rechter und wird gecancelt! Darin steckt eine Aussage:
Wenn ich mir anerkannte gesellschaftliche Werte zu eigen mache und konsequent weiterdenke, gerate ich in den Widerspruch zur vorherrschenden gesellschaftlichen Meinung und bekomme Ärger. Die Konsequenz kann nur sein, dass ich die gesellschaftlichen Einstellungen und Werte nicht weiterdenke und sie mir nicht zu eigen mache, sondern einfach nur nachbete. Dann komme ich nicht in die Gefahr eines Widerspruches in den gesellschaftlichen Werten.
Das findet man derzeit zu 99% in öffentlichen Verlautbarungen von Politikern, Journalisten und anderen Personen des öffentlichen Lebens. Werte werden nachgebetet, aber nicht konsequent weitergedacht. Ganz egal ob es sich um Klimawandel, sexuelle Minderheiten oder Emanzipation handelt. Man kommt bei Weiterdenken automatisch in Widerspruch zur Gesellschaft, die eben nicht wirklich konsequent handeln will oder kann.
Man könnte den Artikel so stehen lassen und höchstens noch darauf verweisen, dass totalitäre Gesellschaften zu allen Zeiten das eigenständige Weiterdenken ihrer Werte und Vorstellungen verboten haben, damit sie nicht hinterfragt und ad absurdum geführt werden können. Das ist auch heute noch so.
Aber auf eines muss man noch hinweisen, was wichtig ist. Die Charakterentwicklung in unserer Gesellschaft hängt bei jedem Einzelnen davon ab, ob er eine Übereinstimmung von schlüssigem Denken und Handeln herstellen kann. Das kann nur jeder für sich selbst tun. Der Lernweg beinhaltet dabei durchaus radikale Schritte des Denkens und Handelns und genau die sind in unserer Gesellschaft verboten. Jugendliche, die auf gegengeschlechtliche Toiletten gehen und damit die Unisex-Toilette vorwegnehmen, gelten schnell als gestört. Aber das ist noch harmlos. Viele junge Leute sind unter den Klimaklebern, die inzwischen im Mainstream als psychisch gestörte Straftäter gecancelt werden. Nur, weil sie unsere Gesellschaft auf ihre Integrität prüfen und die Klimaziele mit drastischen Methoden einfordern. Die Klimaziele sind gesamtgesellschaftliche Ziele, aber wer sie demonstrativ einfordert, wird gecancelt.
So kann Charakter nicht entstehen!
Man darf fragen, wem die Klimaziele eigentlich gehören? Der Industrie? Den wenigen Eliten, die mit dicken Dienstwagen und Flugzeugen durch die Gegend reisen? Wem gehören diese Ziele? Ganz offensichtlich nicht den Klimaklebern und der letzten Generation, sonst würden sie nicht so massiv bekämpft werden.
Wem gehören die Menschenrechte von Mädchen und Frauen? Ganz offensichtlich nicht denjenigen die offen den Islam angreifen und als unmenschliche und nicht in unsere Kultur gehörige Religion bezeichnen. Denn die Menschenrechte von Mädchen und Frauen werden von Politikern und Journalisten instrumentalisiert, die damit andere angreifen möchten und natürlich auch den Islam in andern Ländern. Nur eben nicht bei uns. Sie wollen ja auch von islamischen Vätern und sogar von Islamisten gewählt werden. Die SPD hat ein muslimisches Wählerpotential von einigen Millionen Wahlberechtigen. Also werden beide Augen zugedrückt und diejenigen gecancelt, die die Rechte islamischer Mädchen und Frauen einfordern bzw. schärfere Maßnahmen in diesem Bereich verlangen.
Wie sollen junge Menschen Integrität entwickeln, wenn sie sich bei so offensichtlichen Widersprüchen zurückhalten müssen, um nicht in die öffentliche Schusslinie zu geraten?
Das ganze erinnert mich an den Sozialismus in der DDR, in dem die offensichtlichsten Widersprüche durch vorgeschriebene Meinungen, die voller Euphemismen waren, wegverordnet wurden.
Mit charakterlicher Integrität hatte das genauso wenig zu tun, wie unsere heutige Cancelkultur. Es sind zwei Seiten derselben Medaille. Repression und Unterdrückung freier Meinungsäußerung zum Erhalt der bestehenden Machtverhältnisse. Wie in der DDR so auch in unserer heutigen Gesellschaft, die sich demokratisch nennt, was die DDR ja auch gemacht hat.
Am Ende passt ein Protestsong der DDR erschreckend gut auf unser Deutschland 2023:
„Gerade klare Menschen wären ein schönes Ziel. Leute ohne Rückgrat haben wir schon zu viel!“