Sönke Paulsen, Berlin
Es ist ein sonniger Tag. Elon mag es nicht, wenn es zu hell ist. Zu viel Sonne schlägt ihm auf´s Gemüt. Er versenkt seinen Kopf, der größer ist, als die Köpfe Gleichaltriger, zwischen seinen Beinen und sinniert vor sich hin.
Während er unbewegt dasitzt, hört er den Aufprall von Basketbällen, die gegen den Korb, in den Maschendrahtzaun und auf das Feld prallen, metallisch, mit hohlem Knallen oder rhythmisch, wenn einer der Spieler gerade ein Dribbling hat. Elon möchte, dass alles gleichmäßig ist. Der ständige Wechsel der Geräusche macht ihn nervös, es ängstigt ihn sogar.
Donald beachtet den Jungen, der jeden Tag zu dem eingezäunten Bereich auf dem Hinterhof der alten Fleischfabrik kommt, mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung.
Aber das Mitleid überwiegt, was den blonden Spieler, der schon Anfang Dreißig sein mag, nicht in Ruhe lässt. Mitleid ist ihm eigentlich unbehaglich. In der Mannschaft ist er der Anführer, weil er den anderen Spielern Stärke abverlangt. Stärke, die man, aus der Sicht Donalds, auch als Gnadenlosigkeit bezeichnen kann. Keiner aus seiner Gruppe darf bei einem wichtigen Spiel versagen. Schwäche bringt Donald so in Rage, dass er schon mal einen Kameraden vom Platz schubst, unter heftigen Beschimpfungen, um ihn vom Spiel auszuschließen.
Donald gilt als hart und grausam, aber der Junge mit dem großen Kopf, der fast jeden Tag am Rand des Feldes sitzt, berührt ihn.
Am Ende des Trainings geht er zu ihm und bleibt vor ihm stehen. Der große Blonde wirft seinen Schatten auf Elon.
„Was ist mit Dir, Kleiner,“ fragt er und merkt sofort, dass seine Stimme überheblich klingt.
Elon schaut Donald an. „Was soll sein,“ antwortet er, „ich sitze hier. Seid ihr fertig für heute?“
Donald nickt. „Willst Du auch trainieren,“ fragt er.
Elon nickt ebenfalls.
„Dann leg los,“ meint Donald in einem aufmunternden Ton, „ich will es mal sehen.“
Der Junge schüttelt heftig den Kopf und antwortet mit überdrehter Stimme: „Nein, nein, erst wenn alle weg sind!“
Donald meint zu erkennen, dass der Kleine zittert. „Hast Du Angst,“ fragt er.
„Nein,“ beharrt Elon, „ich will nur allein spielen. Niemand soll zuschauen!“
„Gut, gut,“ beschwichtigt der Kapitän der Hinterhofmannschaft, „ich gehe. Du hast das Feld für Dich.“
Dann dreht er sich um und geht den anderen Spielern hinterher, die schon dabei sind, sich in kleinen Grüppchen auf den Heimweg zu machen. Donald gehört zu keiner dieser kleinen Gemeinschaften und geht grundsätzlich allein. Er hat den Respekt der anderen auf dem Spielfeld, aber nicht ihre Sympathie. Er ist Anführer und Ausseinseiter zugleich!
Während er durch den Hof zur Fabrik-Road schlendert, dreht er sich noch einmal zum Basketball-Platz um. Er sieht den Zehnjährigen allein auf dem Feld stehen. Der Anblick löst ein starkes Gefühl bei Donald aus, ohne dass er weiß, warum. Er muss schlucken und merkt, wie Tränen seine Augen trüben. Er ist unfähig weiterzugehen und starrt hinüber zum Feld.
Elon steht etwa acht Meter vom Korb entfernt und wirft den Ball in immer gleicher Weise. In einem hohen Bogen fliegt sein brauner Basketball in den Korb, wird dort vom Netz leicht abgebremst und knallt dann auf den harten Boden, springt ein bisschen bis der Junge den Ball wiederholt. Dann kehrt er in seine Ausgangspostion zurück und wirft erneut, wobei genau das gleiche passiert. Der Ball fliegt ohne anzustoßen in das Netz und fällt auf den Boden.
Donald beobachtet die Würfe des Zehnjährigen mehrere Minuten lang und registriert erstaunt, dass er keinen einzigen Fehlwurf hat. Der Junge mit dem großen Kopf wirft den Ball wie eine präzise eingestellte Maschine auf die immer gleiche Weise, zielsicher, in den Korb.
„Hey Junge,“ ruft er zu ihm rüber, „wirf auch von woanders!“
Elon schaut zu Donald herüber, der sich anscheinend zu Gehen wendet. Er hat ihn verstanden und geht nun an eine andere Stelle des Feldes, wirft von dort. Er versucht es etwa zwanzig Mal, dann landet der Ball auch von dieser Stelle aus im Korb und er kann den Wurf zuverlässig wiederholen.
Donald ist nur ein paar Schritte weitergegangen und schaut erneut zu dem Jungen herüber.
„Noch eine andere Stelle,“ ruft er Elon zu.
Der reagiert und sucht sich eine neue Stelle im Feld, wirft so lange, bis er trifft und wiederholt die Treffer zuverlässig. Dabei nummeriert er die Stellen im Kopf, nennt sie X-1, X-2 und so weiter. Von X3 geht er zurück auf X2 und trifft auf Anhieb. Als er unter den Zurufen von Donald, der nun etwas näher gekommen ist und hinter dem Zaun steht, X8 erreicht hat, springt er jedesmal an einen anderen nummerierten Abwurfpunkt und trifft dabei den Korb ohne Probleme.
Etwa eine Stunde mag vergangen sein, als Donald, der inzwischen am Zaun steht, sich zu Elon auf das Feld begibt.
„Du hast Talent,“ meint er zu ihn.
Elon schaut ihn fragend und etwas verwundert an.
„So ein bestimmtes Talent,“ ergänzt der Basketballer, „schwer zu beschreiben. Aber Du solltest bei unseren Trainings mitmachen.“
Elon zuckt die Schultern und geht wieder auf X-1 zurück. Er beginnt erneut zu werfen und zu treffen.
Donald stellt sich neben ihn. „Lass mich auch einmal versuchen,“ sagt er. Der Junge gibt ihm den Ball. Er selbst braucht mehrere Versuche um aus dieser Position zu treffen und schüttelt am Ende den Kopf. „Du kannst es besser,“ gibt er zu und wundert sich über sich selbst. Es fällt ihm nicht schwer, den Zehnjährigen zu loben, ihn geradezu über sich selbst zu stellen.
Elon lächelt nicht, er freut sich nicht. Er nimmt es hin. „Ich muss nachhause,“ sagt er zu Donald.
„OK,“ antwortet er, „aber komm morgen wieder!“
Der Zehnjährige nickt.
„Wie heißt Du überhaupt,“ ruft Donald ihm hinterher, als der Junge das eingezäunte Feld verlässt.
„Elon,“ ruft der Junge zurück und spürt dabei kurz, wie ein gutes Gefühl in ihm aufsteigt unter dem er sich größer fühlt als sonst. Das Gefühl könnte stolz sein.
„Ich bin Donald,“ ruft ihm der Trainer hinterher, „bis morgen!“
Elon dreht sich kurz um und nickt. Donald meint ein kurzes Lächeln zu sehen, zumindest verzieht er sein sonst starres Gesicht.
Am nächsten Tag sitzt Elon schon am Spielfeld, als Donalds Mannschaft mit dem Training beginnt. Elon folgt Donald in einem zögerlichen Schritt, als der Trainer den Jungen auf das Spielfeld holt.
Die Mannschaft beginnt zu murren und Jack, der zweitbeste Spieler nach Donald, wird ungeduldig. „Hey Donald, der stört doch bloss. Schick ihn zu den Kindern oder wenigstens zur Jugend.“
Darauf hatte der Trainer gewartet. Er geht zu Jack und schaut ihn direkt an. Es fällt Jack, wie üblich, schwer Donalds leuchtenden, blauen Augen standzuhalten. Er schaut auf den Boden. „Es ist so Jack,“ antwortet er, „dass der Junge uns interessieren sollte. Mich interessiert er und ich zeige Euch auch warum.“
Dann wendet er sich zu Elon und fordert ihn mit einem freundlichen Lächeln auf zu werfen. Elon hält den Ball ruhig in den Händen. Jetzt stört es ihn nicht, dass ihn andere beobachten. Donald steht neben ihm. Gleich auf Anhieb triff er perfekt.
„Wirf noch einmal,“ bittet ihn Donald. Elon wirft und trifft.
Die Spieler schauen gelangweilt zu, wie Elon drei perfekte Treffer erzielt. Jack tritt näher und meint. „Im Spiel ist so etwas schwer zu machen.“
Donald nickt. Er geht noch einen Schritt auf den Jungen zu und klopft ihm leicht auf die Schulter. „Kannst Du nochmal die Positionen zeigen, die Du gestern gemacht hast?“
Der Zehnjährige nickt und arbeitet nacheinander alle zehn Positionen ab, die er geübt hat. Von jedem dieser Punkte aus trifft er bereits nach ein bis zwei Versuchen.
Die Mannschaft sammelt sich nun von selbst um Donald und Elon. Dem Jungen wird es etwas unbehaglich, aber er wirft tapfer weiter. Die Tatsache, dass er weiterhin den Korb trifft, gibt ihm Mut. „Meine Angst kann nicht so groß sein,“ denkt er im Stillen, „schließlich treffe ich den Korb.“
Am Ende bedankt sich Donald bei Elon. „Setz Dich noch an den Spielfeldrand und schau ein wenig zu,“ meint der Trainer, „vielleicht brauchen wir Dich nochmal.“
Der Junge strahlt Donald an und fühlt sich durch seine Aufforderung eher gelobt, als gekränkt. Er nickt eifrig und setzt sich in dem Gefühl auf die Zuschauerbank, heute einen großen Sieg geschenkt bekommen zu haben. Nun wird er weitermachen, auch wenn ihm manches unangenehm ist.
Tatsächlich unterbricht Donald das Spiel immer wieder. Bei Fehlwürfen aus bestimmten Positionen wird Elon gerufen. Dann versenkt der Junge den Ball aus genau dieser Position sicher im Korb und bekommt schnell die Sympathien und den Beifall aller.
Am Ende des Trainings nimmt Jack Donald, der so locker und entspannt wirkt, wie er ihn bisher nicht kannte, beiseite. „Das nützt uns doch nichts,“ sagt er leise zu seinem Kapitän und Trainer, der die Kritik dieses Mal nicht mit einem aggressiven Spruch abwehrt. Donald traktiert Jack auch nicht mit seinem Machtblick, wie vorhin. Er lächelt einfach und legt ihm den Arm auf die Schulter, was ebenfalls eine Premiere in der Beziehung der beiden darstellt.
„Du irrst Dich, Jack,“ antwortet er. „Der Junge macht uns Appetit auf den perfekten Wurf.“
Jack hebt die Schultern. „Aber das kann er im Spiel niemals zeigen. Das Spiel ist dynamisch und er steht da, als wäre er aus Holz, wenn er wirft. Einfach, ihn zu stören.“
„Er ist jetzt vielleicht zehn Jahre alt,“ antwortet Donald ruhig, „auch wenn er seltsam ist, kann er sich entwickeln.“
Jack seufzt und lächelt nun ebenfalls. „Du erstaunst mich, Donald. Ich hätte alles von Dir gedacht, auch das Schlimmste. Aber nicht, dass Du Dich um einen kleinen jungen kümmerst. Das ist einfach nicht Dein Programm!“
Donald schweigt und geht zu Elon. Ein paar Spieler stehen schon um ihn herum und bemühen sich um ein Gespräch, was Elon etwas unanagenehm ist. Er antwortet nur kurz und tonlos auf deren Fragen. Als Donald und Jack dazu kommen, taut er aber auf und erwiedert ihr Lächeln.
„Weisst Du Elon,“ sagt Donald dann, „wir möchten Dir anbieten, als Co-Trainer bei uns einzusteigen. Würdest Du das machen?“
Elon zuckt die Schultern. „Wenn ihr wollt,“ antwortet er. Dann schlägt er bei Donald und Jack ein. Nach und nach geben ihm die anderen Spieler die Hand und der Junge spürt, wie ungeahnte Glücksgefühle in ihm aufsteigen, ganz ohne jede Angst.
Dann steht er auf und geht. „Bis Morgen,“ sagt er zum Abschied.
„Um Fünf,“ ergänzt Donald.
Wähernd er geht, hört er die Stimmen der anderen Spieler, die ihm einen Abschiedgruß zurufen. Er genießt jedes einzelne „Good Bye“. Er geht auf weichen Kissen nachhause, in dem deutlichen Gefühl, dass eine neue Phase seines Lebens begonnen hat. Er wird Erfolg haben und beliebt sein. Aus der Raupe, die er war, ist heute ein schöner Schmetterling geworden.
Elon ist glücklich!
Zumindest kommt es ihm so vor. „Es muss Glück sein, was sonst?“
In den folgenden Wochen dieses Sommers ist der Junge fast täglich auf dem Feld und hilft der Mannschaft auf der Suche nach dem „perfekten Wurf“. Dafür teilt er das Feld in kleine Sektoren ein, die er im Kopf durchnummeriert. Für die anderen ist das unerklärlich. Die Zahlen scheinen in Elons motorische Zentren zu reichen und dort exakt den richtigen Bewegungsablauf zu bewirken. Die Spieler konzentrieren sich darauf, die Wurftechnik des Jungen genau zu beobachten und Elon führt sie ihnen immer wieder vor.
Das scheint zu helfen. Die Spiele der Mannschaft und zuletzt das große Aufstiegsspiel gegen eine Mannschaft der ersten Liga finden nie ohne den Jungen statt. Nicht als Maskotchen, sondern als Trainer, der den Spielern in einem „Break“ auch schnell einen Wurf zeigt. Donalds Mannschaft gewinnt dieses entscheidende Spiel.
In der nächsten Saison wächst der Junge um einige Zentimeter, aber sein Wurf bleibt ebenso präzise, wie am Anfang. In der ersten Liga darf er zwar nicht mitspielen, aber er macht der Mannschaft den nötigen Mut. Mit Elon gibt es keine Ausrede für verpatzte Würfe, denn der Junge zeigt ihnen, dass es geht. Unter Donalds Augen, der Stolz bei seinem Anblick empfindet, wird Elon zu Elon dem Basketball-Coach.
In den drei Jahren, in denen Donalds Mannschaft erfolgreich wird und sich bis an die Spitze der ersten Liga hinaufarbeitet, bleiben Elon und Donald unzertrennlich und führen ihre Mannschaft zuletzt zum ersehnten Pokal.
„Ich habe viel darüber nachgedacht,“ sagt Donald, nach dem gewonnenen Titel, auf die Frage eines Reporters,“welchen Beitrag Elon zu unserem Erfolg geleistet hat. Vermutlich ist er ein Genie. Er trifft immer. Er hat uns Mut gemacht. Aber er war eben auch dieser kleine Junge, dem wir Mut machen wollten. Wir wollten auch für ihn die Besten sein und sind es nun geworden. Ich gebe es zu. Der Kleinste hat uns zum Sieg getragen. Vielen Dank, Elon! Wir lieben Dich!“