Massenlogik statt individueller Freiheit – numerischer Totalitarismus

Sönke Paulsen, Berlin

Der Individualismus hat ausgespielt. Letzten Endes sind wir Informationscluster in einer Massengesellschaft. Unsere Identität ist genauso einzigartig wie eine Facebook-Seite und unser Dasein verliert sich in Tracking-Spuren, die von uns angelegt werden. Die Existenz ist kein Herausragen mehr, sondern bestenfalls noch ein Datensatz von Inkonsistenzen, die es aufzuklären gilt. Das überlassen wir der Wissenschaft, während wir so tun, als würden wir ein Leben führen, das wir mit dem Begriff Qualität fassen möchten. Aber die Qualität ist nicht mehr aus Fleisch und Blut, sondern binär, eine Folge von Nullen und Einsen.

Unter diesen Bedingungen wird zukünftig jede irrationale menschliche Regung zum Problemfall. Wer abweicht, könnte andere anstecken, irritieren oder gefährden, nicht nur durch ein Virus, das weitergetragen wird, sondern auch durch ein Verhalten, das die numerische Daseinsoptimierung gefährden könnte. Wir sind Daten und haben uns zu verhalten, wie Daten. Daten werden ständig optimiert, sie sind berechenbar.

Die Data-Manie führt in die totale Kontrolle

Echter Individualismus sieht ganz anders aus und kann sich nur in der Anpassung an kleine reale Gruppen, als persönliche Besonderheit entwickeln, nicht in einer Massengesellschaft, in der alle, unterm Strich berechenbar, das gleiche tun. Je enger das Datennetz sich zieht, desto geringer der Spielraum für den Einzelnen, der abweicht.

Das Problem, das wir mit dieser neuen numerischen Diktatur haben, ist dass sie vollkommen demokratisch zustande kommt. Wir sind keine Opfer einer Verschwörung und die höhere Absicht, die verfolgt wird und sich in ihren Auswirkungen immer enger um uns legt, ist keine höhere Absicht, sondern ein grundlegender Algorithmus. Dieser besagt, dass wir reduzierbar sein müssen, um steuerbar zu werden, wer sich dieser Reduzierung widersetzt, wird bekämpft.

Das ist nicht ungewöhnlich. Wir steuern alle unsere Systeme und natürlich wird auch das System Mensch so gut es geht gesteuert.

Der Widerstand läuft dabei vor allem auf eine direkte Einigung von Menschen auf der Straße gegen das System. Das kann punktuell sein, wie bei Corona oder längerfristig laufen, wie bei den Gelben Westen, die sich in Frankreich gerade die unpersönlichsten Orte (Verkehrskreisel) für ihre Treffen ausgesucht haben, um sich dort an einem Lagerfeuer zu wärmen.

Das Wesentliche ist, dass hier immer Menschen ohne elektronische Hilfsmittel direkt miteinander kommunizieren und sich die Welt neu ausdenken. Das ist das revolutionäre Potential, das Unberechenbarkeit schafft und das ist zugleich die Antithese gegen die Versklavung in einem Datenpool. Wir treten dabei gewissermaßen aus dem Schatten der Statistik und einigen uns persönlich miteinander. Der Spielraum dafür ist minimal und kann nur durch massive Verstöße gegen die neue Ordnung geschaffen werden. Es ist ein Privileg der Abgehängten, die in der Gesellschaft nur noch mitlaufen und eine gewisse Zeit aufwenden, um wieder Menschen zu werden, die miteinander Menschen sind.

Die Gelben Westen in Frankreich sind aber durch die Corona-Restriktionen stark zurückgedrängt worden. Die Straßen wurden durch die Pandemie von ihnen gesäubert.

Corona hat gezeigt, dass es für nationale Problemlagen noch alternative Lösungen gibt (Schwedens Sonderweg), für internationale Problemlagen, aber oft nur noch eine Lösung, an die sich alle halten müssen. Je mehr wir global denken, desto geringer wird der Spielraum, auch für Einzelne. Nicht die Durchsetzungsfähigkeit der WHO zum derzeitigen Zeitpunkt ist hier das Problem (die ist gering), sondern die Unbedingtheit ihrer Forderungen (widersprüchlich, aber nicht anzutasten).

Fazit

Wer aus dem System der ständigen Optimierung austritt und sich seine Existenz aneignet, widerspricht der Optimierung und darf nichts mehr zu sagen haben. Diese Menschen werden maximal diskreditiert, eingeschüchtert, von der Straße vertrieben und wenn sie noch etwas zu verlieren haben, erpresst und mundtot gemacht.

Die Zivilgesellschaft hat diktatorische Qualitäten

Faktisch wird dies dadurch deutlich, dass sie, in einer organisierten Zivilgesellschaft, keiner Organisation mehr angehören und damit in Konkurrenz zur partizipativen Demokratie im Sinne von partizipierenden NGOs werden. Eine Menge ohne Organisation aber, ist gefährlich. Wer weiß, was ihr einfällt. Sie muss eine Organisation entwickeln oder aber zur unerwünschten Organisation erklärt werden. Das ist Aufgabe der Zivilgesellschaft und der vierten Gewalt, der Medien.

Was im Aufbruch, wie mehr Demokratie aussah, die breite Selbstorganisation der Gesellschaft in Vereinen, NGOs, Bürgerinitiativen und Think-Tanks, ist inzwischen zu einem Grabenkrieg verkommen, der Gesellschaft zuletzt in vermachtete Bezirke eingeteilt hat, zwischen denen es für den Einzelnen keinen Spielraum mehr gibt. Wer sich nicht eindeutig äußert, wird zugeordnet und unter Feuer genommen. Daraus entsteht ein extremer Zwang zur Selbstzensur, der schlimmer ist, als in jeder Diktatur, wo man wenigstens noch in kleinen Gruppen Klartext sprechen kann. In der digitalen Massengesellschaft schützen nur noch die Pseudonyme und auch nur begrenzt, weil immer mehr Meinungsäußerungen zu Straftaten werden und Ermittlungen nach sich ziehen.

Aus einer Hegemonie der guten Werte, wird eine Diktatur, über die die Zivilgesellschaft wacht.

Es ist wie immer, wenn der Kapitalismus das Drehbuch schreibt. Aus der individuellen Freiheit wurde in den letzten zwanzig Jahren der Zwang zur Selbstausbeutung im Sinne einer kapitalistischen Verwertungslogik und der Selbstoptimierung im Sinne  vorgegebener (digitaler) Verhaltensweisen und Mindsets, die alles andere sind, aber nicht individuell. Darüber wacht ein Staat, der von einer selbstherrlichen Zivilgesellschaft vor sich hergetrieben wird und immer restriktiver auf die Einhaltung der Vorgaben pocht. Das Hauptargument für Verbote: „Wenn das alle machen würden, wenn alle so denken würden“ ist in Zeiten der Globalisierung der Grundstein für eine Weltdiktatur mit nur einer Regel: „Unbedingte Assimilation an die vorgegebene, digitale Daseinsform ohne wirkliche Existenz“.

Das Individuum ist längst vermessen, es gab nicht viel her. Was jetzt folgt, ist rein numerische Massenlogik.

spaulsen

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