„Doppeldenk“ zwischen Russland und Europa

Sönke Paulsen, Berlin

Dieser Tage kann man nur empfehlen, die eigenen Orwell-Kenntnisse wieder aufzufrischen. Der Roman 1984, obwohl 1948 erschienen, beschreibt genau den Zustand unserer Welt.

Eine Diktatur mit verteilten Rollen könnte dabei die neue Spielart der Dystopie werden, die Orwell nach dem zweiten Weltkrieg erdachte und aufschrieb.

Ganz sicher ist die Diagnose von „Goldstien“, dem offensichtlich liberalen Juden, in der Geschichte, die Proletarier durch Armut und Krieg unter Kontrolle zu halten und Denkverbote für jeden zu erlassen, um ein totalitäres System am Laufen zu halten, eine aktuelle Spezialität der russischen Diktatur geworden. Der Benutzung des Wortes Krieges für den `Überfall auf die Ukraine wird schließlich in Russland mit Gefängnis bis zu 15 Jahren bestraft. Das sind wahrhaft „Orwellsche Dimensionen“. In Verbindung mit dem unbegrenzten Personenkult um den „Großen Bruder“ Putin und dem kultartigen Hass auf den Westen ist Russland derzeit ganz sicher am nächsten an der Dystopie einer Orwell-Diktatur und droht darin unterzugehen.

Aber Neusprech ist keine russische Spezialität. Das gibt es auch bei uns im Westen. Die permanente Korrektur der Sprache im Sinne der politischen Korrektheit beschäftigt inzwischen Freiwilligen-Bataillone überall an unseren Universitäten, in Think-Tanks und NGOs sowie politischen Parteien vornehmlich linker Provenienz. Dabei soll die Sprache so umgestaltet werden, dass eben nur noch das „Richtige“ gedacht werden kann. Ganz im Sinne des Orwellschen Wahrheitsministeriums.

Die subtileren Orwellisten beschäftigen sich derweil damit, das gesellschaftliche Du einzuführen, weil wir schließlich alle Brüder und Schwestern sind und die Sexualität als Keimzelle falscher politischer Überzeugungen zu kritisieren. Auch das findet sich prominent in Orwells Roman. Lässlich darauf hinzuweisen, dass ein älterer Mann eine deutlich jüngere Frau liebt. Noch ein Fehltritt, der beiden die seelische Vernichtung durch die Institutionen des Orwell-Staates einbringt.

Bleibt die Frage, warum unsere Welt im Osten und im Westen so hartnäckig auf eine Orwellsche Dystopie zusteuert? Das ist fatalerweise nicht zu beantworten. Allerdings kann man vermuten, dass die meisten Menschen die Freiheit, sie selbst zu sein, psychisch nicht ertragen. Sie suchen ihr Heil in Zensur, Bevormundung und neuerdings auch in einem Wertesystem, das zu einem „Wortesystem“ mit immer primitiverer, ideologischer Grammatik verkommt.  Die einen schießen und bomben also und die anderen schneiden uns die Worte ab, damit wir keine Denkverbrechen mehr begehen können. Wobei sie uns, wie` O´Brian in dem Roman permanent duzend auf die Schulter klopfen, während sie uns foltern. Das ist der Weg in die Diktatur mit verteilten Rollen zwischen Ost und West.

1984, das muss man schon sagen, scheint tatsächlich etwas ganz zwangsläufiges zu bekommen. Eine sich selbst erfüllende Prophezeihung?

spaulsen

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