Regionalisierung, Kontrollillusionen und Diktatorenträume


Sönke Paulsen, Berlin

Vor kurzem wurde in einer englischen Studie, beim Vergleich von Corona-Maßnahmen und Todesraten, festgestellt, dass es keine konsistenten Korrelationen für kein Land auf der Erde gibt, die Rückgänge der Infektionszahlen waren durch rigide Maßnahmen eher mäßig und lagen zwischen 13 und 19%.

Grafik ecdc 25.11.2020

Man kann das glauben oder nicht, aber auch der Augenschein wirkt. Bei der Betrachtung unserer heutigen Zahlen, schafft es Frankreich (16.282) mit einem rigiden Lockdown mit Ausgangssperren in etwa auf das Niveau von Großbritannien (18.213), Deutschland (22.609) und Italien (25852), was die täglichen Neuinfektionen angeht. Wir haben europaweit eine Infektionswelle, die in allen Ländern einen ähnlichen Verlauf aufweist, weitgehend unabhängig von den Maßnahmen, die getroffen wurden.

Wie schon im Frühjahr gibt es dramatischere und weniger dramatische Verläufe in den einzelnen Ländern, bei denen mehr oder weniger gegengesteuert wird. Aber die Welle bleibt europaweit dieselbe. Nach einem Anstieg folgt ein Abfall. Überall!

Natürlich kann man das als Folge der sehr unterschiedlichen Maßnahmen, die getroffen wurden, interpretieren. Aber das fällt dann eindeutig unter das Kapitel: „Kontroll-Illusion“ über die es umfangreiche wissenschaftliche Literatur gibt. Die Kontrollillusion ist eine der psychologischen Voreinstellungen, die gut untersucht sind und beim menschlichen Faktor quasi immer mitspielt, auch wenn einfach nur gewürfelt wird.

In Bezug auf Corona unterliegen wir ganz sicher einer ständigen und unreflektierten Kontrollillusion. Das zuzugeben, ist politisch nicht opportun, aber für unsere Gesellschaften überlebenswichtig. Denn so eingreifende Maßnahmen, wie wir sie in Europa erleben, kann man nur rechtfertigen, wenn sie auch wirklich wirksam sind.

Ganz bezeichnend ist hier das Beispiel der Kanzlerin, die die Maßnahmen solange durchhalten will, bis die magische Grenze von 50/100000 Neuinfektionen unterschritten ist. Ziel, die Gesundheitsämter sollten Fälle wieder nachverfolgen können. Angesichts der aktuellen Zahlen eine typische Kontrollillusion.

Natürlich werden die Zahlen irgendwann unter diesen Wert sinken. Aber dann ist die Welle durch. Wofür brauchen wir dann die Gesundheitsämter? Kurz, die Forderung ist überholt, weil sie schon zu spät kommt und Nachverfolgung auch im Vorfeld dieser Welle nichts bewirkt hat.

Europäischen Horizont neu denken

Ganz anders sieht es bei der Frage aus, ob wir nicht zu einer neuen Form der europäischen Betrachtung kommen können, wenn wir Lehren aus Corona ziehen? Denn die Infektionsraten scheiden sich nicht nur an Ländergrenzen, sondern an Regionen, die supranational betrachtet werden sollten. Hier kann die Frage gestellt werden, in welchen Regionen die Pandemie besonders brutal zuschlägt und wo sie eher glimpflich abgeht.

Grafik ecdc, abgerufen 25.11.2020

Bezogen auf Regionen fällt hier zunächst ein Nord-Südgefälle EU-weit auf, von schlimm nach schlimmer, möchte man sagen, wenn nicht die vielen Ausnahmen wären, die aber ebenfalls sehr deutlich regional und nicht national bestehen. Am deutlichsten ist der Kontrast zwischen dem Alpenraum mit extrem hohen Inzidenzen, die sich nahtlos bis in die polnischen Karpaten im Osten und den Alpes Maritimes im Westen ziehen, während in den dünn besiedelten Regionen Skandinaviens wenig Infektion stattfindet.

So weit so offensichtlich. Mit Ausnahmen allerdings.

Denn, wenn man nach Skandinavien schaut, fällt Schweden unangenehm auf und zeigt sich ähnlich rötlich, wie mitteleuropäische Länder. Schweden hat zu keiner Zeit einen Lockdown verhängt und es gibt dort auch keine umfangreiche Maskenpflicht.

Auf der anderen Seite ist das überaus bergige und südeuropäische Griechenland kein typischer Hotspot in Europa. Die dichter besiedelten Regionen im Norden des Landes allerdings schon. In Großbritannien will man nun auf die sehr unterschiedlichen regionalen Infektionszahlen reagieren und Teillockdowns für stark betroffene Regionen verhängen, die vor allem in Mittelengland liegen. Man sollte aufmerksam hinschauen, wie sich die Zahlen dann im Vereinigten Königreich entwickeln.

Das alles wäre eigentlich gar nicht so interessant, wenn es zwischen den EU-Staaten, diesen unterschwelligen Wettlauf um die besten Zahlen nicht gäbe, der maßgeblich von unserer Kanzlerin getrieben wird.

Merkel scheint hier Diktatorenträume zu haben, die in der Regel immer darin bestehen, durch eine zentralistische Hierarchie und eine einsame Entscheidung das Problem für ganz Europa zu lösen. Danach sieht es aber derzeit in Europa überhaupt nicht aus.

Übrigens hatte Merkel für ähnliche Anwandlungen in der Eurokrise schon ganz hübsche Kritiken als deutsche Diktatorin in Südeuropa kassiert, wenn man sich erinnern will.

Die EU ist durch die Pandemie in ganz erheblicher Weise zu einem Europa der Regionen geworden, aber eben in negativer Form. Die Regionen müssen sich oft genug einem zentralistischen Ansatz beugen, wie in Frankreich, Spanien und Italien und eben auch, wie wir gerade sehen konnten, in Deutschland, wo sich die Kanzlerin mit einer bundesweiten Regelung durchgesetzt hat.

Ein richtig verstandenes Europa würde nun dazu übergehen, das Zepter der Pandemiebekämpfung, grenzübergreifend an die betroffenen Regionen zu übergeben und dort Maßnahmen erarbeiten zu lassen, die den spezifischen Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Pandemiebekämpfung, beispielsweise in der Alpenregion gerecht würden.

Dann gäbe es aber keine Diktatoren mit zentralistischem Ansatz mehr, wie Merkel, Macron und Johnson, wobei letzterer möglicherweise gerade dabei ist, klug zu werden.

Wir werden sehen und auf Großbritannien schauen.

Es gibt diese, falsch verstandene EU unter deutscher Führung mit französischer Adjutanz. Eine solche EU wird niemals das Problem der Pandemie gemeinsam lösen können, wie sie auch die Migrationsfrage, die Eurokrise und die Bankenkrise nicht gemeinsam lösen konnte.

Ganz eindeutig steht hier die Kanzlerin einem Europa der Regionen entgegen, das dem deutschen Dominanzstreben ein Ende setzen könnte, weil Regionen, die selbst entscheiden können, nicht mehr an Ländergrenzen gebunden sein dürfen. Genau an dieser Stelle würde der Kuchen für Berlin kleiner werden.

Wenn Deutschland in der Pandemie nicht mehr die besten Zahlen liefert, ist das ein Prestigeverlust ohne gleichen. In Wirklichkeit ist diese Art der Konkurrenz ein Hinweis auf die fehlende europäische Solidarität, die eben gerade von Berlin verweigert wird, wenn Merkel nicht die erste Geige spielen kann.

Es ist sehr zu hoffen, dass die Bundesregierung bald den Weg für ein rationales Europa, das regional zusammenarbeitet, frei macht. Aber dafür scheint zunächst die Kanzlerin gehen zu müssen.

spaulsen

One Comment

  1. Das sehe ich auch so. Zusätzlich das Problem, dass Merkel ihr (persönliches) Problem selber gar nicht bewusst sein mag. Dazu noch eine Entourage, die das befördert (und sie wiederum diese). Es mag eher ein Problem auf der Persönlichkeitsebene sein, was aber dem Land, der EU nicht weiterhilft – im Gegenteil. Da wäre eher ein Psychologe / ein Psychiater gefragt. Auf der EU-Ebene dann noch eine „Gleichgestrickte“, die auf nationaler Ebene ihre Unfähigkeit in noch viel größerem Maß schon unter Beweis gestellt hat. Diese erratische Person und damit die Problemstellung bleibt uns auch nach dem Abgang Merkels (nur vorläufig?) erhalten. Einmal von deren grundlegenden Makel abgesehen, dass sie bei der Wahl buchstäblich gar nicht auf dem Zettel stand. Das ist eine Delegitimation ex ante, die nicht mehr heilbar ist und sich das „gemeine Volk“ hoffentlich bis zur nächsten Europawahl noch merke(l)n kann.

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