Was Albert Camus uns vielleicht zurufen würde
Die Corona-Krise hat viel bewirkt, nicht immer zum Guten. Viele sind in Existenznot geraten und haben sogar ihre wirtschaftliche Existenz verloren. Es gab Solidarität in Form von Hilfszahlungen, aber es gab auch den autoritären Lockdown, eine Mischung aus Shut-down, einer Stilllegung des öffentlichen Lebens und Lock-in, ein Einsperren der Menschen zuhause.
Daraus haben sich verschiedene Reaktionen entwickelt, die von Akzeptanz bis extremer Reaktanz reichten und alle zum Spektrum menschlicher Reaktionen auf solche Krisen gehören.
Da die Situation so existenziell war, wundert es nicht, dass ein Existentialist und Literat, wie Albert Camus plötzlich gefragt war, wie schon lange nicht mehr. Einzelne Buchexemplare des vergriffenen Romans „Die Pest“ wurden bei Ebay zu Preisen von annähernd zweitausend Euro gehandelt. In Deutschland legte der Rowohlt-Verlag das vergriffene Buch wieder auf.
Aber was ist so bedeutend an diesem Buch, das die Leiden einer Stadt in Nordafrika während einer Pestepidemie beschreibt? Bücher über Epidemien gibt es viele.
Camus entwickelte in der „Pest“ den philosophischen Gedanken, dass die Fähigkeit des Menschen sich gegen die Absurdität des Daseins abzugrenzen, ja gegen sie zu kämpfen, das eigentlich Menschliche ist. Absurdität setzt er hier häufig mit Totalität gleich, die ohnmächtig macht. Der Arzt Rieux, der in der Stadt gegen die Pest kämpft und immer mehr Mitstreiter hat, erlebt die unterschiedlichsten Reaktionen auf die Seuche. Von der Flucht über die ferne Solidarität der Menschen, die nicht betroffen sind, über Verschwörungstheoretiker, Manipulatoren und Profiteure.
Das Besondere ist, dass er jede Reaktionsform gelten lässt und sie als Ausdruck des Kampfes gegen die Absurdität und vor allem die Totalität betrachtet. Der Mensch wehrt sich, wie er kann.
Es gibt keinen Grund, den Pariser Journalisten zu verurteilen, der aus der Quarantäne fliehen will und schließlich seine Frau bei einem normalen Tod verliert, der nichts mit der Pest zu tun hat. Es gibt auch keinen Grund den Arzt Rieux zum Helden zu stilisieren, der das tut, was er kann, um der Totalität der Seuche nicht ausgeliefert zu sein. Es gibt aber jeden Grund die Solidarität der Menschen, die betroffen sind, zu schätzen und zu fördern und das völlig unabhängig von der Bewertung ihres Verhaltens. Jeder versucht auf seine Weise mit der Situation fertig zu werden und kommuniziert das. Daraus entsteht Solidarität, welche die Totalität des Absurden überwindet.
Eine zutiefst humane Botschaft.
Nach Camus ist es undenkbar, Corona-Skeptiker als Covidioten zu bezeichnen, Verschwörungstheoretiker verächtlich zu machen und Menschen die keine Maske tragen, an den Pranger zu stellen.
Sie tun nichts anderes, als nach einer, dem Menschen angemessenen Antwort auf das Absurde zu suchen, sich in einer oder vielen verschiedenen Sinnvorstellungen zu solidarisieren und dabei gegen die Totalität, die den Menschen vereinsamt, zu wehren.
Auf der letzten Corona-Demo im September in Berlin hatte ich den Eindruck, das spüren zu können. Die Leute hielten Abstand voneinander, saßen auf den Straßen, meditierten, hörten den Rednern zu, die Erklärungsmodelle anboten. Sie waren beieinander und solidarisch trotz der trennenden Seuche.
Ich fand es in diesem Augenblick nicht mehr wichtig, ob hier Verschwörungstheorien oder gesellschaftskritische Beiträge angeboten wurden, ob versprengte Reichsbürger durch die Reihen liefen oder ob Menschen keine Maske trugen. Der Augenblick der Solidarität war der Augenblick des Menschseins und der existentiellen Wahrheit.
Es gibt kein richtig oder falsch unter existentiellen Gesichtspunkten. Alle haben Recht. Die politische Erkenntnis ist allerdings, dass der Weg den die Mehrheit beschreitet, keinen Anspruch auf Totalität fordern kann.
schon auch iwie zieml total sowas: fast wie das athener Paradoxon…