Sönke Paulsen, Berlin
Nach bald einem Jahr Corona-Pandemie haben wir kein Konzept gefunden, damit umzugehen. Die Akzeptanz der Ausbreitung ist für uns keine Option. Es muss gegengehalten werden, mit Maßnahmen, die nicht funktionieren, aber wenigstens etwas beruhigen.
In der Tiefe schlummert der Wunsch nach Normalität und von oben wird uns ständig eine Kontrollillusion verordnet, die immer mehr mit Zwang und immer weniger mit Vernunft daher kommt und irritiert. Natürlich irritiert das. Illusionen, die sich langsam also solche herausstellen, irritieren nun mal.
Das Tiefe ist auch der Abgrund, der uns angedroht wird, wenn wir keine Compliance zeigen, womit oft schon gemeint ist, Kritik an den Maßnahmen zu üben. Das Hohe ist Sieg über die Pandemie, der möglichst von Deutschland ausgehen sollte. Das wird nirgendwo gesagt, atmet aber in allen Brandreden der Regierenden mit, wenn darauf verwiesen wird, dass wir mit dem schmerzhaften Lockdown im Frühjahr schon so viel erreicht hätten.
Seit Wochen hören wir nun in den Medien vom erneuten exponentiellen Anstieg der Infektionen. Selbst wenn man die Zahl der positiv Getesteten nimmt, ist der Anstieg nach einem Sprung auf den Siebentausender Gipfel täglicher Neuinfektionen, inzwischen moderat. Vermutlich wird der Anstieg weniger dramatisch weitergehen und wenn nicht, dann haben wir unser Bestes getan.
Das ist das Sonstige.
Wir leben nämlich weiter und noch nicht einmal unter der Priorität vollkommen infektionsfrei zu bleiben. Wir wollen heiraten, Kinder kriegen und großziehen. Wir schicken unsere Kinder in die Kitas, gehen unserer Arbeit nach und küssen uns sogar, wenn wir uns mögen.
Das ist Wirklichkeit, die man nicht ewig anhalten kann.
Das Sonstige ist unser „Leben in Zeiten der Corona.“ Fast hätte ich Cholera geschrieben und bin dann erleichtert zu mir gekommen, weil es nur Corona ist. Die Cholera hatte uns Jahrhunderte im Würgegriff.
Zurück zum Hohen. Wenn man dieses Wort benutzt, geht es meist um Ideale und um Macht. Wir kommen nicht daran vorbei, dass uns gerade Macht demonstriert wird und zwar restriktive, sogar repressive Macht, wenn wir nicht spuren. Das Ideal, dass kein Mensch sterben darf, weil sich andere falsch verhalten, soll diese Art der Machtausübung heiligen. Ein erfreulich biophiles Konzept, das aber als Ideal umgesetzt ins Gegenteil umschlägt, in die Nekrophilie. Denn wenn Leben nicht mehr möglich ist, geht es langsam ans sterben. Aus dem Hohen wird das Tiefe.
Wenn uns ständig ein neuer Lockdown angedroht wird, ist dies genau dieser Mechanismus. Wenn wir das Ideal nicht erreichen, müssen wir mit Kerker nicht unter zwei Monaten rechnen. „Niemand hat die Absicht einen Lockdown zu errichten“ und ständig wird damit gedroht, einschließlich der Einkerkerung ganzer Landkreise, Stadtteile, Gemeinden und Wohnblocks.
Gescheitert am biophilen Ideal, niemanden in seiner Gesundheit zu gefährden, werden wir mit Freiheitsentzug, Kontaktentzug und Restriktion unserer Lebensmöglichkeiten bestraft.
Damit sind wir dann bereits in dem Abgrund gelandet, der uns ständig angedroht wird. In China haben sie auch Wohnungen vergittert. Das wäre dann noch eine Steigerungsmöglichkeit der Unmenschlichkeit. Viel mehr ist aber praktisch nicht möglich.
Wir sind kurz davor, wegen eines Ideals und einer Kontrollillusion am Boden zu liegen. Durch das Hohe erleiden wir das Tiefe.
Der einzige Ausweg aus dieser Falle ist es, zur Tagesordnung überzugehen und unser Bestes zu tun, der Infektion nicht die Tore weit zu öffnen. Auch wenn unser Bestes natürlich nicht gut genug ist und nie gut genug sein wird.
Das Sonstige, das Weitergehen und die Trauer über die Verluste, ist das Normale im Leben. Die Ausnahmesituation, die aufrechterhalten wird, ist der Versuch eine neue Gesellschaft zu gestalten, die gegen die Angriffe der Natur immun wird. In dem Wunsch nach dem ewigen Leben aber, lauert der Tod.
Das ewige Leben, das erfahren momentan viele, ohne es zu wissen, ist kein Leben. Wer den Tod ausschließen will, schließt auch das Leben aus. Genau das passiert uns gerade.
Wir können unsere Politiker nicht für unsere Ideale verantwortlich machen. Wir haben diese Ideale alle, wollen alle unbeschadet leben. Das Leben aber schadet uns, was sich nicht verhindern lässt. Das ist kein Fatalismus, sondern Akzeptanz. Das ist das Sonstige und mit Verlaub, das Entscheidende.
Finden wir also einen Weg, die Pandemie so gut es geht zu überstehen und trotzdem so weiterzuleben, dass sich Leben noch wie Leben anfühlt und nicht wie eine einzige Zitterpartie.
Wir können unsere Regierenden nicht verantwortlich machen. Aber mit Ängsten zu spielen, ist keine Art der Führung, sondern eine Methode der Unterdrückung, egal wie transparent sie daher kommen mag.
Führung dagegen besteht darin, Zuversicht und Vertrauen herzustellen, ohne Ignoranz von Gefahren, aber auch ohne Panikmache. Leider haben wir derzeit nicht die politische Führung, die das kann. Aber wir selbst können uns innerlich unabhängig davon machen und der Manipulation widerstehen.
Dann haben wir in diesem Jahr alles hinbekommen. Das Tiefe und auch das Hohe und vor allem das Sonstige.