Die Beweislast im Fall Assange

Sönke Paulsen, Berlin

Die Öffentlichkeit soll beweisen, dass die Justiz Assange politisch motiviert verfolgt. Schwer zu sagen, wie?

Im Fall von Julian Assange, der nach der Verbüßung einer Höchststrafe wegen Verstoßes gegen die Kautionsauflagen nun von der britischen Justiz in Auslieferungshaft genommen wurde, stehen Aussagen gegen Aussagen.

Es gibt Fürsprecher des Wikileaks-Gründers. Nils Melzer, Sonderberichterstatter der UN für Folter, ist ein solcher und hat seine Geschichte der Verfolgung von Julian Assange durch mindestens drei Regierungen (Schweden, Großbritannien und USA) in den Medien erzählt. Diese Geschichte, die freilich nicht in einem offiziellen UN-Bericht mündete, was das Auswärtige Amt moniert, ist gespickt mit Zweifeln an ordentlichen rechtsstaatlichen Vorgehensweisen bei der Verfolgung von Assange. Angefangen mit den Vergewaltigungsvorwürfen der schwedischen Justiz, über die britische Justiz bis zur amerikanischen, werden eine Reihe von Auffälligkeiten vorgetragen, die Zweifel hervorrufen, dass tatsächlich Einzeldelikte verfolgt werden sollten, Stattdessen eine jahrelang geheim gehaltene Anklage durch die USA wegen Spionage, die 2019, kurz vor seiner Verhaftung in der ecuadorianischen Botschaft erstmals durchsickerte.

Es gibt nun eine Reihe von Äußerungen, von Juristen, die verlangen, dass Nils Melzer seine Thesen von der politischen Verfolgung Assanges mit den Mitteln eines gebeugten, vielleicht auch nur ausgetricksten Rechtsstaates, beweisen solle.

Wenn Melzer oder irgendjemand sonst einen solchen Beweis führen könnte, wäre das nichts weniger, als eine Sensation. Natürlich bleibt die Sensation aus, denn Melzer kann es nicht beweisen.

Wir können ja einmal überlegen, wie solche Beweise aussehen könnten.

Melzer beschreibt, wie eine der beiden schwedischen Journalistinnen, die mit Assange geschlafen haben, Angst wegen eines geplatzten Kondoms während des Beischlafs mit Assange bekommt und sich bei der Polizei erkundigt, ob sie ihn zu einem HIV-Test zwingen könne. Am nächsten Morgen steht ein großer Artikel über eine Vergewaltigungsermittlung gegen Assange in einer großen schwedischen Tageszeitung. Von einer Vergewaltigung war aber selbst die Betroffene ganz offensichtlich nicht ausgegangen.

Sie sucht Hilfe bei der Kollegin, mit der Assange ebenfalls geschlafen hat und teilt ihr mit, dass die Polizei die Sache hochkoche und sie den Verdacht habe, dass etwas gegen Assange konstruiert werden solle.

Jahre später will sie von diesen Äußerungen nichts mehr wissen, geht dann tatsächlich von einer Vergewaltigung aus, wegen des geplatzten Kondoms, das Assange hätte veranlassen müssen, den Geschlechtsverkehr sofort einzustellen, was er nicht tat.

Es geht also eine schwedische Journalistin zur Polizei und wird dort darüber informiert, dass sie vergewaltigt wurde, wovon sie vorher eigentlich nichts wusste. Der Artikel am nächsten Tag macht ihr das ursprüngliche Ansinnen, sich eine Anzeige noch einmal zu überlegen, unmöglich, denn nun haben die Medien den Vergewaltigungsvorwurf ja schon öffentlich gemacht. Welche Journalistin kann da noch zurückrudern?

Was ist das?

Zufall?

Von einer Anklage, die in den USA gegen ihn vorbereitet wurde, wusste Assange damals noch nichts. Denn er floh nicht vor der schwedischen Justiz, sondern fragte höflich nach, ob er das Land verlassen dürfe. Ihm wurde zugesichert, dass er das Land verlassen kann und so ging Assange nach Großbritannien, wo er dann kurze Zeit später wegen eines internationalen „Haftbefehls“ der schwedischen Justiz festgenommen wurde.

Wenn das so stimmt, liegt nahe, dass an beiden Stellen, bei der Anzeige, die nicht als Anzeige gedacht war und bei der Ausstellung eines internationalen „Haftbefehls“ (eigentlich eine so genannte Red Notice, die aber einem Haftbefehl in der Wirkung gleich kommt), nachdem man Assange zusicherte, das Land verlassen zu können, jemand interveniert hat.

Es gab unterschiedliche Zuständigkeiten von staatsanwaltlicher Seite bis Marianne Ny den Fall an sich zog. Marianne Ny war zu diesem Zeitpunkt stellvertretende Staatsanwältin von Göteborg und nahm den Fall Assange wieder auf, nachdem er von ihrer Kollegin Eva Finé geschlossen wurde. Es handelte sich dabei um Vorermittlungen. Der internationale Haftbefehl gegen Assange wurde ebenfalls im Rahmen von Vorermittlungen ausgestellt. Ganz sicher lässt sich das juristisch begründen. Aber seltsam ist das schon, wenn wegen eines Deliktes, das bestenfalls als minderschwerer Fall einer Vergewaltigung durchgeht, von der Betroffenen eigentlich gar nicht angezeigt werden wollte, eine eingestellte Vorermittlung wieder aufgenommen wird und dann zu einem internationalen Haftbefehlt führt.

Die britische Justiz war ebenso konsequent in dieser Sache, sie verhaftete Assange umgehend. Die Freilassung auf Kaution, die dann zur Flucht von Assange in die Botschaft von Ecuador führte, hatte eine millionenschwere, jahrelange Überwachung der Botschaft durch die britische Polizei zur Folge. Schließlich wurde Assange nach Einstellung der Ermittlung in Schweden, aus der Botschaft gezerrt und festgesetzt, wegen Verstoßes gegen die Kautionsauflagen. Die Höchststrafe wurde verhängt.

Halten wir also fest.

Assange wird nach einem geplatzten Kondom in Schweden mehr von der Polizei, als von der Betroffenen der Vergewaltigung beschuldigt, und es folgt eine Eskalation der Justiz mit Hilfe der Medien, die von der ersten Staatsanwältin nicht mitgetragen wird, von der Zweiten (Ny) aber dann über Jahre weitergetrieben wird. Die gleiche Eskalation findet in Großbritannien statt, wo ein internationaler Haftbefehl (wegen eines geplatzten Kondoms) zur Festsetzung des Wikileaks-Gründers führt. Dieser wird dann noch auf Kaution freigelassen und wittert eine Verschwörung, die ihn zur Flucht in die Botschaft von Ecuador treibt. Statt sich entspannt zurückzulehnen (es geht ja nur um ein geplatztes Kondom) startet die britische Justiz die größte und teuerste Überwachungsaktion die sicherstellen soll, dass Assange keinen Fuß aus der Botschaft setzten kann, ohne sofort verhaftet zu werden.

Ist diese Art von Strafverfolgung wegen eines geplatzten Kondoms rechtsstaatlich üblich? Selbstverständlich ist sie rechtsstaatlich möglich, was ja alle beteiligten Akteure bewiesen haben. Aber ist sie üblich?

Sie ist nicht üblich! Man kann sie auf verschiedene Weise begründen.

Erstens kann man sich vorstellen, dass es sich um einen kollektiven narzisstischen Reflex der Justiz in Schweden und Großbritannien handelte, die sich von Assange in beiden Ländern gleichermaßen vorgeführt gefühlt hat. Ein Fall einer extrem kränkbaren Justiz also, die aus jeder Mücke einen Elefanten macht, wenn es sich um eine Person des öffentlichen Lebens handelt. Das könnte dann auch der Grund sein, warum die schwedische Justiz sich mit Ecuador bezüglich einer Vernehmung von Assange in seinem Asyl nicht einigen konnte. Assange sollte zurück nach Schweden, ganz ungeachtet seiner Befürchtungen, an die USA ausgeliefert zu werden. Er sollte sich keiner Justiz entziehen können und schon gar nicht unterstellen, dass ein europäischer Rechtsstaat ihn politisch verfolge.

Zweitens können eine oder mehrere staatliche Institutionen Einfluss auf die strafrechtliche Verfolgung aus politischen Gründen genommen haben. Auch hier wäre ein Grund zu erkennen, warum die Strafverfolgung nicht weitergehen sollte, als bis zur Festsetzung von Assange durch die Justiz, weil ein größeres Verfahren und ein mächtigeres Interesse aus den USA bereits angekündigt war.

Drittens kann es sich um eine völlig irrwitzige Abfolge von Zufällen handeln, in deren Ergebnis die amerikanische Justiz überhaupt erst auf die Idee gekommen ist, ein Verfahren gegen Assange vorzubereiten und seine Auslieferung zu verlangen.

Welche dieser Deutungen ist die wahrscheinlich Realistische?

Wenn man sich für die zweite Variante entscheidet, muss man sich fragen lassen, warum dann nichts durchgesickert ist? Immerhin haben wir es mit Wikileaks zu tun, eine Organisation, die in der Lage ist, Geheimdienste zu hacken oder hacken zu lassen? Warum kommt aus Schweden keine Skandalnachricht, dass sich der „MUST“ der militärische Abschirmdienst der Schweden, der auch mit der NSA zusammenarbeitet, über politische Kanäle eingemischt hat, um Assange festzusetzen?

Wo dockt die Geschichte an? An welcher Institution? An welchen Personen wenigstens? Derzeit lässt sich die Schlacht um Assange an keiner strippenziehenden Institution in Schweden oder Großbritannien festmachen. Bisher lief alles über Polizei und Justiz, über die Medien vielleicht noch, aber das reicht nicht.

Ist es wirklich so, dass alle dicht halten? Oder suchen wir, unberechtigt, nach einer Verschwörungstheorie?

Die Fakten und Ereignisse sind derartig widersprüchlich, dass wir an normale rechtsstaatliche Verfahren in diesem Fall nicht glauben wollen. Aber was ist es dann?

Die Augsburger Allgemeine hat 2019 nach Assanges Verhaftung einen angemessenen Artikel hierzu veröffentlicht. Deutlich wird die Vermengung von politischen und juristischen Fragen, wobei alle betroffenen Länder derzeit ein hohes Risiko eingehen würden. Großbritannien würde bei einer Auslieferung von Assange in die USA internationale Proteste riskieren. Schweden würde riskieren, dass bei einer Anklage gegen Assange von den Vorwürfen nichts beweisbares übrig bleibt und die USA würden riskieren, dass die Kriegsverbrechen, die das Land begangen hat, wieder in den Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit rücken.

Faktisch haben also alle etwas zu verlieren, weshalb Assange inzwischen wie eine heiße Kartoffel wirkt, die niemand mehr anfassen möchte. Passend dazu die „Verschieberitis“ der britischen Justiz im Auslieferungsverfahren an die USA. 70 britische Abgeordnete haben bereits die Auslieferung von Assange nach Schweden befürwortet. Dann ist man das Problem erst einmal los.

Die Frage aber, ob die USA durch informelle Kanäle zuvor interveniert hat und so die Festnahme des Wikileaks-Gründers verursachte, steht aber weiterhin im Raum. Die USA können das, was sie im Falle des NSA-Veröffentlichers, Edward Snowden, eindrucksvoll gezeigt haben, wenn auch letztlich ohne Erfolg. Diplomatische Flüge wurden über Europa festgehalten und zur Landung gezwungen, um dann durchsucht zu werden. Eine Machtdemonstration!

Die USA können das, bleiben bei solchen spektakulären Aktionen, aber meist nicht unentdeckt. Nochmal die Frage. Warum ist im Falle Assange nichts durchgesickert, wenn die USA in Schweden interveniert haben sollten? Was, wenn schwedische Politiker, im transatlantischen Gehorsam vorausschauend Einfluss auf die Staatsanwaltschaft genommen haben? Aber auch hier sickert in der Regel etwas durch.

Es gibt noch ein anderes Bild, das auf den Fall Assange passen könnte. Ein Beschuldigter reagiert auf juristische Anwürfe paranoid und fängt an, zu zappeln. Er versucht sich zu entziehen und je stärker er das tut, desto mehr verfängt er sich in den Netzen der Justiz, desto unbarmherziger werden die Bänder des Netzes angezogen, das schließlich über einer ganzen Botschaft liegt. Hätte Assange in Schweden ausgeharrt und sich der Justiz weiterhin zur Verfügung gestellt, oder sich nach Veröffentlichung der Red Notice, was einem internationalen Haftbefehl in der Wirkung gleichkommt, den schwedischen Behörden gestellt, wäre es vielleicht nicht so schlimm geworden.

Vielleicht haben die USA ja tatsächlich erst nach der fraglichen Einflussnahme von Wikileaks auf die US-Wahlen 2016, ernsthaft angefangen einen Prozess gegen ihn vorzubereiten? Dann wäre sein Status als international beachteter Gegenspieler der USA, aus der ecuadorianischen Botschaft heraus, dafür mitverantwortlich gewesen.

Unterm Strich gehört der Fall aufgeklärt und die Player lassen sich nach wie vor nicht in die Karten schauen. Ein gutes Stück investigativer Journalismus wäre dafür erforderlich. Nein, ein brillantes Stück aus diesem Bereich ist notwendig, um diese verworrenen Abläufe mit den entsprechenden Hintergründen aufzuklären. Ob das noch möglich ist, bleibt ganz die Frage.

spaulsen

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