Sönke Paulsen, Berlin
Das Problem mit dem westlichen Narzissmus. Gedanken über die relative Hässlichkeit des Individuums in unserer Zeit und die fehlende Identifikation mit der Gesellschaft im Ganzen.
Ein
provokativer Titel, gewiss, aber bewusst gewählt. Wir haben keine Phasen der Geschichte
auf die zu verweisen wäre, wenn es um den allgemeinen menschlichen Narzissmus
geht. In keiner Zeit war der Einzelne so stark bestrebt, sein Ich in den
Vordergrund zu stellen. Oder?
Es könnte sein, dass genau der Gedanke, der mir zum Angriff auf den Liberalismus rät, als Beispiel wie Gesellschaften den Keim zum Untergang besonders dann recht deutlich in sich tragen, wenn sie den Einzelnen zu extrem in den Vordergrund stellen, eigentlich das Gegenteil von sich selbst meint.
Ich meine den Gedanken, dass der Maßstab unserer Gesellschaft der Einzelne ist und nicht das Ganze, das Individuum und nicht die Gesellschaft, die Person und nicht der Rahmen, in dem sie lebt, die ständige Entfaltung und eben nicht die bleibende Idee, die uns zu sich „hinan zieht“. Das Wohlergehen des Einzelnen als Maßstab der Konsumgesellschaft, der Demokratie und eben des Liberalismus.
Genau dieser Gedanke könnte eben nicht in der Nachkriegsgesellschaft, nicht in der kulturellen Wendung zu Hedonismus und Konsum, sondern viel früher entstanden sein. Nämlich im klassischen Idealismus, der den Menschen auch ohne göttliche Weisung gelten lässt, wenn dieser nur einem allgemeinen menschlichen Ideal nachgeht, welches auch in ihm zu erkennen sein muss, wie Goethe es beschrieb, Menschen, die nach nichts anderem streben, als Mensch zu sein. Der Erfolg dieses Strebens zeige sich in der Schönheit des Einzelnen. Sie stellt einen Wert an sich dar.
Davon sind wir heute allerdings weit entfernt. Der Mensch wird immer hässlicher, sowohl außen, als auch innen und der Hedonismus lässt sein Bild immer entstellter wirken. Eine dicke, selbstsüchtige und konsumfreudige Statur, die äußerste Ansprüche an die Gesellschaft stellt, ohne dieser etwas zurückzugeben. Ein Schmarotzer, der unsere Gesellschaft von innen heraus frisst und zerstört. Die Entfaltung des Einzelnen auf Kosten des Ganzen.
Im idealistischen Sinne ist der Mensch äußerst hässlich geworden. Aber der Gedanke, dass dies nur unserer Zeit zugehörig ist, muss verneint werden. Die Maßlosigkeit in der Dekadenz des Einzelnen, der alles für sich beansprucht, und durch das eigene Ego korrumpiert ist, gab es in jeder Kultur auf ihrem absteigenden Ast.
Sind wir also dekadent?
Mit Sicherheit sind wir das!
Es gibt allerdings auch den Narzissmus der Masse, welcher die Einzelnen sich unterordnen, wie wir im Nationalsozialismus sehen konnten.
Dann doch lieber unseren hässlichen Narzissmus des Einzelnen?
Das Dritte Reich hat den deutschen Übermenschen propagiert und gefördert und ihn dann für die schlimmsten Unmenschlichkeiten missbraucht bis zum totalen Untergang. Der schlimmste Missbrauch menschlicher sozialer Strebungen und der Identifikation mit dem gesellschaftlichen Ganzen, der überhaupt denkbar war, kam aus Deutschland, genau wie dessen Grundlage, der Idealismus.
Inzwischen gibt es aber auch andere Systeme, die ihre Bevölkerung weitgehend von der Politik fernhalten und ihnen dennoch persönliche Prosperität erlauben, wie China oder Russland. Damit sind wir weit von der politischen Teilhabe im Westen entfernt, aber auch von der Orientierungslosigkeit eines Systems, das jede Dummheit des Einzelnen oder von Gruppen zur Wahrheit erklärt, wenn sie nur mehrheitsfähig ist. Wobei „demokratisch“ oft nur eine manipulative Zivilgesellschaft meint, welche die eigentliche Machthaberin des Liberalismus ist, abgesehen von der wirtschaftlichen Elite, die sich aber immer enger mit der Zivilgesellschaft verbandelt.
Man kann das als lässlich ansehen. Aber wir werden bekämpft, massiv bekämpft. Das wird seine guten Gründe haben.
Vor allem die Autokratien im Osten wollen kein System der grenzenlosen Entfaltung des Einzelnen und lehnen den Liberalismus als dekadent ab. Stattdessen fördern sie ein System der Mehrheitsgesellschaft, die auch über die Interessen von Minderheiten hinweggehen darf, seien diese sexuell, ethnisch oder politisch. Dabei diktiert eine verhältnismäßig dünne Elite den Weg der Mehrheit und ist dabei kaum demokratisch legitimiert.
Man darf dabei nicht vergessen, dass sowohl Russland, als auch China Phasen des Liberalismus durchlaufen haben, beispielsweise in den Neunzigern, die viele Merkmale der Auflösung und Destabilisierung aufwiesen. Das Ergebnis war die jetzige Antithese einer Oligarchie mit Duldung der Masse. In China überwacht durch die Kommunistische Partei, in Russland durch aufgeblasene Geheimdienste. Als Angebot für das Volk gibt es jeweils Nationalismen und den Kampf gegen übermächtige westliche Länder, vor allem die Vereinigten Staaten.
Was passiert, wenn sich diese Identifikationen erschöpft oder erübrigt haben, steht in den Sternen.
Der Angriff aber findet statt. Wir laden fast dazu ein, weil wir außer wirkungsarmen Beschwörungsformeln der Freiheit und der Menschenrechte nichts für unsere Mehrheiten bieten können, außer dem Wohlleben des Einzelnen in materieller, jedoch nicht in mentaler Hinsicht. Die politische Korrektheit ist ein Boden, der eilig eingezogen wurde, um die Verbindlichkeit des liberalen Menschenbildes sicherzustellen. Aber sie ist umstritten und niemand würde sich bei uns mit einer Waffe an die Front begeben, um die politische Korrektheit zu verteidigen, übrigens auch die Freiheit nicht. Denn die freie Entfaltung des Einzelnen wird eher als Aufforderung zum Hedonismus verstanden und dafür lässt sich nun einmal niemand erschießen.
Warum sollten wir auch den Wohlstand unserer hässlichen Nachbarn verteidigen, wenn wir noch nicht einmal davon ausgehen können, dass diese dasselbe für uns tun?
Der Zusammenhalt wird zwar inzwischen auf jedem Wahlplakat beschworen, ist aber gesamtgesellschaftlich nicht existent. Es ist ein verächtliches Mit- und Gegeneinander, das der Liberalismus produziert und damit Gesellschaften, die bestenfalls noch Berufsarmeen aufstellen können, aber nicht mehr für ihren eigenen Fortbestand die Waffe in die Hand nehmen würden.
In den letzten Jahren des „Kalten Krieges“ und den ersten Jahren der Wiedervereinigung ließen sich unschwer Unterschiede zwischen westlichem und östlichem Charakter erkennen. Soziale Beziehungen wurden gepflegt, indem man sich auf einen stillen Komplott gegen den repressiven Staat geeinigt hatte, während man im Westen schon unversöhnliche politische Lager wahrnahm, die jeweils Alleinvertretungsansprüche aufstellten. Im Westen gab es also nur Gemeinsamkeiten unter Vorbehalt, während im Osten die andere Seite die Partei war, welcher man sich still entzog. Das Misstrauen im Osten rührte vom Apparat der Stasi her, während es im Westen durch den allgegenwärtigen Narzissmus erzeugt wurde.
Das ist heute noch so und das westliche Mindset ist im Osten bekanntermaßen verhasst. Allerdings repräsentiert das westliche Mindset, der westliche Narzissmus und Liberalismus inzwischen in einer Art Siegermentalität das gesamte Land.
An den Leuten im Osten kann man aber die Vorstellung einer Mehrheitsgesellschaft, wie sie in anderen östlichen Ländern noch ausgeprägter existiert, noch erkennen. Es geht darum, dass nicht der Einzelne und der Lauteste, nicht der Extremste und nicht der Radikalste den Marktplatz beherrschen darf, sondern die eigentliche Mehrheit, die sich in Normalität übt.
Solche Gesellschaften sind in sich geschossener, ihre Werte stabiler und ihre Entwicklung langsamer und nachhaltiger, als es im Liberalismus der Fall ist. Für die Mehrheit bieten sie Halt und Orientierung, aber für Minderheiten bieten sie eigentlich nur die weitgehend bedingungslose Anpassung.
Wirtschaftlich mögen diese Gesellschaften weniger prosperieren, weil sie meist auch weniger innovativ sind. Aber die Menschen leben unter den Bedingungen haltgebender Orientierungen und vermutlich mental gesünder.
Ob sie aggressiver sind, als liberale Gesellschaften, wird hier offengelassen. Aber sie fühlen sich leichter angegriffen und schlagen dann auch zurück, während unser westlich liberales System davon lebt, dass die ganze Welt der Spielplatz ist, also zur Expansion drängt. Nicht umsonst sind verschiedene angezettelte „Farbenrevolutionen“ westlich liberalen Musters (nicht selten mit gekauften Demonstranten und Revolutionären aus zweifelhaften politischen Lagern) der jetzigen Konfrontation vorangegangen. Die Konfrontation ist fundamental und richtet sich gegen unser westlich liberales System, unsere infiltrativen Methoden in Osteuropa und die entsprechende Wirtschaftsmacht, die wir gegen den Osten in Stellung gebracht haben, lange bevor der erste Schuss fiel.
Wie auch immer. Der Angriff gegen uns läuft. Das Feindbild ist der dekadente Liberalismus mit seinen hässlichen und haltlosen Individuen. Unsere Gesellschaften wären dabei tatsächlich militärisch zu überwinden, weil man sie nicht mobilisieren kann. Wenn der militärische High-Tech-Apparat, der in großen Teilen dysfunktional ist, erst einmal überwunden ist, gibt es kein Halten mehr. Unsere Bollwerke sind nur noch die östlichen Demokratien, die sich nicht erneut Russland geschlagen geben wollen und noch den Kern gesunder Mehrheitsgesellschaften aufweisen. Wir selbst wären bei einem militärischen Vollangriff wehrlos.
Die politischen Lager im Westen können das nicht spüren, weil sie sich nicht mehr vorstellen können, dass sie nur einen kleinen Teil der Gesellschaft vertreten. Die Konzentration auf die individuelle Freiheit hat uns atomisiert, bevor überhaupt die erste Bombe gefallen ist.
Wir kämpfen nicht für die Freiheit des Individuums, dumm und hässlich zu sein und dabei noch im Wohlstand zu leben. Das ist kein Ideal!