Wir laufen in eine Diktatur! Ja, aber…

Sönke Paulsen, Berlin

Wir erleben in der westlichen Welt eine zunehmende Einschränkung der Meinungsfreiheit und eine beunruhigende Verfolgung politisch Andersdenkender mit sozialen, rechtlichen und ökonomischen Mitteln. Allerdings, mit einem neuen Sozialismus hat das nichts zu tun. Auch der Begriff Stalinismus dürfte eher auf das zeitgenössische Russland anzuwenden sein. Wir leiden dagegen unter den Folgen einer digitalen Subkultur.

Ausgrenzung, Diffamierung, soziale Existenzvernichtung auf der einen Seite und eine monströse Propagandamaschine im Internet, die uns täglich befiehlt, was wir zu denken haben. Wie konnte es dazu kommen, dass Google, Youtube und Facebook, dass Twitter, aber auch Apple und Microsoft zu den allgegenwärtigen Akteuren einer Überwachungsgesellschaft geworden sind, die leistungsfähige Algorithmen haben, welche nach politisch inkorrekten Begriffen suchen, um diese zu löschen und ihre Autoren zu sperren?

Wie konnte es dazu kommen, dass wir auf eine digitale Welt zusteuern, die man in China in ihren Konsequenzen für die Bevölkerung bereits als Digitale Diktatur bezeichen kann? Dort gibt es Sozialpunkte für digitales Wohlverhalten und Bestrafungen, bis hin zum Konzentrationslager, für digitale Abweichler.

Es hatte doch alles so gut angefangen mit den digitalen Konzernen, die alle in irgendeiner Garage in Californien in Shorts und von langhaarigen Gründern aus der Wiege gehoben wurden. Ganz Subkultur, möchte man meinen. Gates, Zuckerberg, Page und Brin sowie der charismatische Steve Jobs. Wer von denen hatte denn vor, der Welt eine digitale Dystopie überzuhelfen?

Es waren die Kinder der linken Subkultur, genau wie die Umweltbewegung, die sich auch in Europa und ganz besonders in Deutschland aus dieser Subkultur entwickelte. Die Grünen waren in den Siebzigern noch eine Bewegung und etablierten sich erst in Achtzigern schrittweise als politische Partei. Alles war Subkultur!

Aber das war doch im Westen die Jugendbewegung, die basisdemokratisch bis anarchistisch orientiert war – oder?

Google hatte noch bis in die zweitausender Jahre eine Art von Selbstverwaltung der Mitarbeiter, die auch an Basisdemokratie erinnern sollte. Trotzdem stimmt sich der Konzern nun mit der KP in Peking ab, welche Bedingungen einzuhalten sind, damit auch die Chinesen in den Genuss der Suchmaschine kommen können. Die Bedingungen sind rabiat und beinhalten letztlich auch, dass politische Abweichler aufgspürt und an die chinesischen Behörden gemeldet werden. Auch in den USA gibt es solche Bedingungen und in der EU inzwischen auch. Wie stehen also diese Subkultur-Unternehmen zur Meinungsfreiheit? Haben sie ihre Orientierung verloren oder sind sie korrumpiert?

Die traurige Wahrheit ist, dass die „Big-Brother-Konzerne der digitalen Welt“ nicht die demokratische Orientierung verloren haben. Sie hatte nie eine! Meinungsfreiheit ist das Produkt bürgerlicher Revolutionen im achtzehnten und neunzehnten Jahrundert und nicht das Produkt von politischen Subkulturen oder Jugendkulturen oder wie auch immer. Denn dort herrschte niemals Meinungsfreiheit!

Wer sich an die siebziger Jahre erinnert, weiß genau, wovon ich spreche. Die Jugendsubkultur, egal ob grüne Bewegung, Linke oder Friedensbewegung, war immer ein Ort, wo man nur mit einer bestimmten Meinung, der vorherrschenden in der Subkultur, überleben konnte. Abweichler wurden massiv bekämpft, diffamiert und ausgeschlossen. Das gebot die Einheit der Gruppe und die Frontstellung der Subkultur gegen die bürgerliche Gesellschaft. Diese bürgerliche Gesellschaft war es, die sich in der Zeit der westlichen Kulturrevolutionen ab den sechziger Jahren eine gewisse Toleranz auferlegt hat, um das Gebot der Meinungsfreiheit auch gegenüber radikal denkenden Jugendlichen und ihrern Verführern aufrecht zu erhalten. Nicht alle hielten sich daran, aber ein gewisser Teil der Medien und der Öffentlichkeit eben schon.

Es sind genau diese Jugendlichen und ihre Verführer, die inzwischen an die Macht gekommen sind und das Denken der Subkulturen gewissermaßen in die Gesellschaft injiziert haben. Große Unterstützung gab es von den digitalen Konzernen und der High-Tech Branche, welche eben keine Demokratie brauchte, sondern Akzeptanz für ihre digitalen Revolutionen, die Gates, Jobs, Zuckerberg und wie sie alle heißen an die Weltspitze katapultiert haben. Genau diese Akzeptanz gab es ab den neunziger Jahren überall in der westlichen Welt, wenn die Leute jung und zukunftsorientiert waren. Das ist die Machtgrundlage mit der heute, die enge Auslegung von Meinungsfreiheit überall im digitalen und öffentlichen Raum durchgesetzt wird. Es ist das Denken der Subkultur.

Vielleicht wehren sich nun ein paar Grüne und sagen, sie hätten mit der Basisdemokratie schließlich ernst gemacht. Die gab es aber auch erst, als die Partei die Grünen gegründet war und sich im politischen Raum profilieren musste und nicht in der grünen Bewegung. Vor allem aber gibt es diese Basisdemokratie nur für die Leute mit dem „richtigen Bewusstsein“ und wer das nicht hat, wie Boris Palmer beispielsweise, wird bekämpft und ausgeschlossen. Demokratie für eine bestimmte meinungsbildende Gruppe und nicht für den Rest der Menscheit. Das ist Subkultur und ihr unverschämter Machtanspruch. Inzwischen werden wir fast überall digital überwacht, geduzt und indoktriniert. Dank dieser Kulturrevolution seit den Sechzigern.

Ich frage mich, was das mit Sozialismus oder Stalinismus zu tun haben soll. Es ist der Auswuchs einer Gesellschaft, die eben gerade nicht meinungspluralistisch sein soll, weil sie nach dem Vorbild einer Peergroup junger Menschen gedacht und zunehmend auch so organisiert wird. Es ist egal, wie Wenige die Mehrheit manipulieren, wenn sie nur die „richtige Meinung“ haben. Das ist Subkultur!

Zivilgesellschaft mit ihrer inflationären Zunahme von NGOs ist inzwischen ganz überwiegend nach dem Muster von Peergroups organisiert. Die politischen Organisationen sind nicht im geringsten demokratisch aufgestellt. Sie agieren eher wie politische Aktionsgruppen und nicht wie demokratische Parteien. Auch das ist ganz klar eine Entwicklung die aus der Subkultur kommt.

Im Sozialismus hatten wir einen übermächtigen Staat, der die Gesellschaft immer stärker gekapert und eingebunden hat. jetzt haben wir eine übermächtige Subkultur, welche den Staat gekapert hat und ihm seinen Liberalismus, insbesondere den Meinungsliberalismus austreibt. Das ganze wird durch die erwähnten digitalen Konzerne hervorragend flankiert und orchestriert, so dass es keines Zentralkommitees und keines Diktators bedarf.

Nein! Unsere Diktatur kommt aus der Subkultur! Das Interessante daran ist, dass wir es hier im großen und Ganzen mit einer Generation zu tun haben, die diese Abschaffung des staatlichen Liberalismus betreibt. Es sind die Leute, die zwischen den sechziger und den achtziger Jahren erwachsen geworden sind. Überall in der westlichen Welt ist das so. Die haben nie ihren Frieden mit der Demokratie gemacht, weil sie dafür die Meinung anderer tolerieren müssten. Genau das war nicht gerade die Stärke der westlichen Kulturrevolution, die wie jede Revolution jakobinisch dachte.

Sie haben ihre Kinder indoktriniert und erhalten sich auf diese Weise die Macht, an deren gesellschaftlichen Schaltstellen sie längst sitzen. Aus dem realen Sozialismus kommt da niemand. Es ist eine verwirrte Generation, die mit den Realitäten des Nachkriegs-Europas nicht klar kam und in einen rasenden Fluss der Weltveränderung eingetaucht ist. Auch in der Zukunftsforschung haben sie Platz genommen. Als „normative Zukunftsforscher“, die darüber entscheiden, in welche Welt wir steuern. Faktisch aber produzieren sie Dystopien, die wir als Normalmenschen, die denken, dass sie in einer liberalen Gesellschaft leben, von Jahr zu Jahr unangenhemer zu spüren bekommen.

Mich persönlich würde es wundern, wenn das Ergebnis dieser Entwicklung ein anderes wäre, als die digitale Diktatur in China, die wir heute bereits besichtigen können. Die Konzentrationslager für Andersdenkende fehlen noch. Aber wie lange?

Die Kehrseite dieser Machtübernahme durch die Subkultur ist übrigens der staatliche Zerfall, den wir überall in der westlichen Welt beobachten können. Die Antwort derjenigen, die sich an die Macht gebracht haben ist dann noch mehr Subkultur für die Gesellschaft. Inzwischen haben wir Parallelgesellschaften an jeder Ecke und die Einhaltung unserer Grundwerte kann kaum noch durchgesetzt werden. Der Zerfall geht weiter. Eine vernünftige Generation ist leider nicht in Sicht.

spaulsen

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